Verfremdet, entschärft, überhöht

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Achim Freyer gelang im Akademietheater mit einem eher durchschnittlichen neuen Kroetz eine fulminante Aufführung.

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Achim Freyer gelang im Akademietheater mit einem eher durchschnittlichen neuen Kroetz eine fulminante Aufführung.

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Franz Xaver Kroetz ist ein Virtuose der Schicksalsschläge. Er schaufelt Unglück auf Unglück über seine Figuren, kein denkbares Leid, das nicht schon in einem seiner Stücke armen Leuten widerfahren wäre. Wenn sie ausnahmsweise nicht Opfer der ungerechten sozialen Verhältnisse werden, schlägt blindlings die höhere Ungerechtigkeit zu. In Kroetzens jüngstem Stück, "Die Eingeborene", verirrt sie sich als Biene in die Limonade und sticht den armen kleinen Torsten in den Hals, so daß er ersticken muß, während es seine Mutter Irmi im Gras mit Hugo treibt. Sein Tod ist nämlich eine dramaturgische Notwendigkeit, weil Irmi ja sonst nicht am Gräbelein den Heiligen Geist beschimpfen könnte, der einen Vogelkopf hat, sich aber als Exhibitionist gebärdet, nachdem sie schon vorher den Jesus am Kreuz mit ihrem Feuerzeug bedroht hat, weil er da oben hängt und nix tut.

Die Uraufführung im Wiener Akademietheater aber geriet dank Achim Freyer zwei Akte lang zu einem Wunder der Regiekunst, erst im letzten Akt kommt diese gegen den Text nicht mehr auf. Da setzt er sich durch. Spät, zum Glücke des Publikums, aber doch. Oder sollte, bange Frage, Kroetz geahnt haben, was ein Regisseur mit seinen Verfremdungskünsten aus diesem Text machen würde, als er "Die Eingeborene" schrieb? Eher nicht, denn er deklariert sie zwar als "Stück für großes Kasperltheater", doch beim Lesen ist es ein Kroetz wie jeder andere. Mit den Aktbezeichnungen "Glaube - Liebe - Hoffnung" begibt er sich diesmal in den Clinch mit Ödön von Horvath. Doch welch differenzierte Sicht der Menschen, welche Milieukenntnis, und auch, stets präsent im Hintergrund, welches Wissen über die Ursachen des sozialen Elends - bei Horvath, nicht bei Kroetz. Der hätte besser nicht an ihn erinnert!

Indem Freyer aber das Kasperltheater wörtlich nimmt, den Schauspielern große Kunstköpfe überstülpt und sie wie Wurschteln nur von der Taille aufwärts sichtbar werden, und indem er sie teilweise in einem abgehobenen, märchenhaften Ton reden läßt, verfremdet er das allzu Vordergründige, entgröbert das Grobe, differenziert das Undifferenzierte, befördert den bei Kroetz leider zur Routine verflachten sozialkritischen Pseudorealismus in einen Schwebezustand, in dem alles etwas irreal und abgehoben wirkt. Selbst wenn Kroetzens Irmi "Da is mei Arsch und wo bist du?" sagt, entsteht, kaum zu glauben, auf Freyers Bühne Poesie. Sonderaufführungen für Mädchenpensionate werden trotzdem nicht empfohlen, an stilisierten überdimensionalen männlichen Zeugungsorganen mangelt es in der Aufführung nicht.

Maria Happel vollbringt unter ihrer Maske ein Bravourstück der Intensität und der Nuancierungen, vor allem ihr ist es zu danken, daß viele Szenen auf Irmis Weg von Mann zu Mann ergreifen: Ein Leidensweg mit Glücksmomenten. Rund um sie gute bis sehr gute Leistungen. Auch am Fuße der Kasperlbühne, wo die Moritat kommentiert wird. Eine ganz wichtige Rolle spielen die Masken von Maria-Elena Amos. Sie würden genügen, um die Aufführung sehenswert zu machen.

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