VERLETZUNGEN ERZÄHLEN

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LITERATUR BRINGT MISSBRAUCH INS GESPRÄCH: GELUNGENE UND WENIGER GELUNGENE NEUERSCHEINUNGEN ZUM THEMA.

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LITERATUR BRINGT MISSBRAUCH INS GESPRÄCH: GELUNGENE UND WENIGER GELUNGENE NEUERSCHEINUNGEN ZUM THEMA.

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Was lange Zeit verschwiegen und unter den Teppich gekehrt wurde, ist in den letzten Jahren in aller Munde: der Missbrauch, die Gewalt an Kindern. Zuletzt hat Pola Kinskis Autobiographie "Kindermund" (Insel 2013), in der sie den jahrelangen Missbrauch durch ihren Vater Klaus Kinski beschreibt, der Diskussion neuen Zündstoff gegeben. Deutlich wurde einmal mehr, dass den Opfern oft unverhohlene Missgunst entgegenschlägt. So musste sich Pola Kinski vom Feuilleton etwa den Vorwurf gefallen lassen, sie bediene den öffentlichen Voyeurismus.

Auch die literarische Annäherung an dieses sensible Thema gleicht einem Gang auf dünnes Eis: Es ist leicht, alles falsch, und praktisch unmöglich, alles richtig zu machen. Welche Sprache findet man für Missbrauch und Trauma? Welche ästhetischen Verfahren können dem gerecht werden? Einige literarische Neuerscheinungen begeben sich dennoch auf dieses heikle Terrain und sind dabei unterschiedlich geglückt.

Strukturell begründet

Ging es in ihrem polarisierenden Debütroman "Bitterfotze" (Kiepenheuer und Witsch 2009) um die so schwer zu überwindenden Hierarchien zwischen Männern und Frauen im gesellschaftlichen Mikrokosmos Kernfamilie, so zeigt sich das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern in Maria Svelands jüngstem Text "Häschen in der Grube" (Kiepenheuer und Witsch 2013) in einer deutlich brutaleren Dimension. Julia wird von ihrem Vater Carl missbraucht. Als die Mutter ihrer besten Freundin Emma eingreift, wird sie in der Kleinstadt zur Persona non grata: In Familienangelegenheiten hat man sich nicht einzumischen. Auch im aufgeklärten Vorreiterland Schweden ist Gewalt immer noch strukturell implementiert. Sveland beschränkt sich indes nicht auf die Darstellung des sexuellen Missbrauchs in der Familie, sondern skizziert sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als vielschichtiges System, das sich aus frauenverachtender Pornografie, männlicher Deutungshoheit in den Medien, misogyner Literatur à la Strindberg und alltäglichen verbalen bis physischen Übergriffen speist. Die kindliche Naivität ist gepaart mit der Desillusionierung jener, die schon früh mit Gewalt konfrontiert worden sind: "Lieber Gott, ich bitte dich! Trenn dich ausnahmsweise mal von deiner Männersolidarität", wünschen sich die Freundinnen Emma und Julia, bevor sie sich im Wald gegen den "Rhabarbermann", der die Mädchen beobachtet und dabei masturbiert, zur Wehr setzen. Svelands Roman wirkt passagenweise arg typisiert und die Bilder, die sie für den Missbrauch findet, wollen nicht immer so recht überzeugen: Die Angst macht sich als "Kralle im Magen" bemerkbar, das Trauma lässt die Welt ringsum verstummen. Auch die kontrastierenden Familienmodelle, die liebevolle Alleinerzieherin Annika hier und die sich hinter ihrer wohlanständigen Fassade versteckende, konservative Familie dort, sind von pädagogischer Einfachheit: Gisela macht den Haushalt und ist Kosmetikerin, während Annika für den Kulturteil der städtischen Zeitung Joyce Carol Oates rezensiert.

Bündelung von Gewalt

Die systematische Reproduktion von weiblicher Verletzungsoffenheit und männlicher Verletzungsmächtig keit wird zwar gut umrissen, allerdings wäre weniger an einigen Stellen mehr gewesen: Das "Häschen in der Grube" ist Julia, für sie ist das Leben ein Spießrutenlauf. Nach der sexuellen Belästigung im Wald und dem Missbrauch durch den Vater, wird sie auch noch bei der Jugenddisco vergewaltigt. Eine solche Bündelung von Gewalt gelingt im abstrakten Erzählkosmos einer Elfriede Jelinek, dazu ist Svelands Roman insgesamt aber zu trivial und eindimensional.

Narrativ gebrochen präsentiert sich das Szenario in Lisa Kränzlers für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman "Nachhinein" (Verbrecher Verlag 2013). Auch hier geht es um eine Mädchenfreundschaft. Von der "ewigen Schwesternschaft", das wird schnell klar, bleibt allerdings nichts übrig. Die Ich-Erzählerin und ihre Freundin "JasminCelineJustine" wohnen einander gegenüber, stammen aber aus unterschiedlichen sozialen Milieus: Klavierstunden, Kultur und elterliche Fürsorge herrschen in der bildungsbürgerlichen Familie auf der einen Seite der Straße, emotionale Verwahrlosung und Missbrauch im proletarischen Haushalt auf der anderen: "Die Gesichter und Bäuche unserer Mütter hätten unterschiedlicher nicht sein können."

Einprägsames Trauma

Die Separierung beginnt schon im Kindergarten, sie ist dauerhaft und von der einen Seite durchaus erwünscht: "Wer will, wenn es um Namen, Farben und Gruppenzusammenstellungen geht, an Willkür oder Zufälle glauben? Ich nicht." Das gibt der Ich-Erzählerin auch die Möglichkeit sich prätentiös zu artikulieren, während JasminCeline-Justine nicht als Erzählerin in Erscheinung tritt und ihr Trauma nur über personale Erzählpassagen greifbar wird. Dieses Schweigen und zur Innerlichkeit verdammt Sein korreliert auf der Inhaltsebene mit der Unfähigkeit, das eigene Leid anderen begreifbar zu machen. Selbstverletzungen bis hin zum Suizidversuch sind die Folge, für die nicht nur das anhaltende Martyrium, sondern auch die empathielose Gesellschaft, die sich in der Ich-Erzählerin spiegelt, verantwortlich zeichnen. Lotta, Luisa oder Luzia, auch die Erzählerin dient als soziale Chiffre, kann für die Freundin nicht nur kein Mitgefühl aufbringen, ihre Zuneigung schlägt vielmehr in Abwehr und Hass um.

Während Sveland den Missbrauch drastisch beschreibt, bleibt das Trauma bei Kränzler diffus, dafür aber umso einprägsamer: "Ihr Inneres - ein Falterfriedhof. Was feucht und rot und violett war, überziehen schwärzliche, schuppige Schichten. Staubige, rußige Überreste, die ersticken, begraben, verstopfen und betäuben. Sie spürt den Kadaver der Falter in ihren Adern. Lauter kleine Klumpen, die den Fluss hemmen. Alles stockt und staut."

Nabokovs Lolita

Dass die Differenz zwischen den Lebenswelten der zwei Mädchen, obgleich überzeichnet, trotzdem nicht aufgesetzt wirkt, liegt an der geschickten Erzählstrategie. Kränzler meistert den schmalen Grad zwischen Ästhetisierung und Einfühlung sehr sicher. Der Kontrast zwischen den Erinnerungen der selbstverliebten Ich-Erzählerin, die ihre Unversehrtheit feiert und es für das Schließen der Blutsschwesternschaft nicht einmal übers Herz bringt, sich eine Wunde zuzufügen, und den ohnmächtigen Beschreibungen der Missbrauchserfahrung aus der Perspektive des Mädchens, ist die größte Stärke des eindrucksvollen Romans.

Kontroverse Frauenfiguren haben es Sara Stridsberg schon in ihren bisherigen Romanen angetan. Die schwedische Feministin widmet sich - nach der ersten Frau, die den Ärmelkanal durchschwamm, und der Andy Warhol-Attentäterin Valerie Solanas - in "Darling River"(S. Fischer 2013) zur Abwechslung nunmehr keiner historischen, sondern einer fiktiven Figur und versucht sich an einer Neuverortung der zum Motiv avancierten erotischen Kindfrau Lolita. Stridsbergs "Doloresvariationen", so der Untertitel ihres Romans, sind allerdings kein klarer Gegenentwurf zu Vladimir Nabokovs "Lolita".

Bei Nabokov liest sich die sexuelle Beziehung eines erwachsenen Mannes, nämlich des Stiefvaters, zu seiner anfangs 12-jährigen Stieftochter nicht als Kindsmissbrauch, sondern als Verführungsgeschichte par excellence. "Ich jedoch war schwach, ich war nicht klug, ich war meines Schulmädchen-Nymphchens höriger Knecht." Humbert ist nicht der Verführer, sondern der Verführte. Diesen Blickwinkel nehmen auch die Verfilmungen von Stanley Kubrick und Adrian Lyne ein und inszenieren das Kind als lasziven, berechnenden Teenager in bester Femme-fatale-Tradition.

Das Verstörende an Nabokovs "Lolita" ist, dass er den Leser zu seinem Komplizen macht, er zwingt ihm die Perspektive eines Pädophilen auf und verschleiert den Akt des Missbrauchs, der ganz in der ästhetischen Wucht des Textes aufgeht. Gleichzeitig ist Humbert natürlich kein sehr vertrauenswürdiger Erzähler. Relativiert wird diese brisante narrative Struktur durch den Rahmen des fiktiven Herausgebervorworts, das gleichzeitig die Funktion einer Leseanleitung einnimmt: "Er ist anomal. Er ist kein Gentleman. Aber wie zauberisch kann seine singende Violine eine Zärtlichkeit heraufbeschwören, ein Erbarmen mit Lolita, so daß wir von dem Buch hingerissen sind, während wir seinen Autor verabscheuen. Als klinischer Fall wird Lolita zweifellos in psychiatrischen Fachkreisen klassischen Rang einnehmen. Als Kunstwerk geht es über die Absicht zu sühnen weit hinaus."

Dem eine einfache Opferversion entgegenzustellen ist nicht Stridsbergs Anliegen und dazu sind ihre Charaktere auch bei weitem zu komplex. Die erotische Männerfantasie wird hier vielmehr zum verstörenden Kaleidoskop, das Schmerz und Lust genauso verschwimmen lässt, wie die Grenze zwischen Opfertum und Täterschaft. Man erlebt Lolita als vom Vater misshandeltes Mädchen, als sexhungrige Femme fatale, als gescheiterte Mutter. Mit einfachen Wahrheiten hält es Stridsberg nicht: "Also: Das Gespür für die Wahrheit ist bei Kindern und Kriminellen häufig unterentwickelt, genau wie bei einer besonderen Sorte gefallener Frauen. Die Wahrheit über Sie ist, dass Sie ein sehr krankes Kind sind und ich nicht garantieren kann, Sie zu heilen", legt Stridsberg dem behandelnden Arzt in den Mund, während Lolita nicht an Wahrheit, sondern an einer eingehenden Untersuchung ihres Körpers interessiert ist.

"Darling River" negiert jeden Wahrheitsanspruch und weckt vielmehr Sympathie für die Gefallenen. Auch wenn sich aus der perspektivischen Vielfalt eine Ahnung von Missbrauch schält, ist Lolitas Sicht, wie jene Humberts bei Nabokov, getrübt. Dabei macht sie es dem Leser nicht einfach: "Meine Krankheit wird mein Leben für immer beeinträchtigen, ich werde stets Fehleinschätzungen vornehmen und alles, was mir passiert, anders verstehen als andere. Erlebnisse, die ich selbst als Erfolge begreife, wird meine Umgebung immer als Niederlagen auffassen. Was ich als Liebe deute, ist in den Augen meiner Umwelt nichts anderes als Gewalt und Feindseligkeit."

Nachhinein

Roman von Lisa Kränzler Verbrecher Verlag 2013 300 S., geb., € 22,70

Häschen in der Grube

Von Maria Sveland. Übers. von Regine Elsässer. Kiepenheuer & Witsch 2013.384 S., kart., € 10,30

Darling River

Doloresvariationen. Roman von Sara Stridsberg. Übers. von Ursel Allenstein. S. Fischer 2013 336 S., geb., € 22,70

VERONIKA SCHUCHTER, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck; soeben erschienen: "Textherrschaft. Zur Konstruktion von Opfer-, Heldinnen- und Täterinnenbildern in Literatur und Film"(2013).

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