Marie NDiaye:"Ladivine" - Verleugnete Herkunft, erfundenes Leben

19451960198020002020

Warum verheimlicht man die eigene Mutter - und ihr gegenüber die neue Familie? Und kann man damit dann gut leben? Marie NDiayes neuer Roman "Ladivine" greift ein Thema auf, das sich auch in Karine Tuils Roman "Die Gierigen" findet.

19451960198020002020

Warum verheimlicht man die eigene Mutter - und ihr gegenüber die neue Familie? Und kann man damit dann gut leben? Marie NDiayes neuer Roman "Ladivine" greift ein Thema auf, das sich auch in Karine Tuils Roman "Die Gierigen" findet.

Werbung
Werbung
Werbung

"Sie wurde wieder zu Malinka, kaum hatte sie den Zug bestiegen, und das war für sie weder erfreulich noch unangenehm, denn es fiel ihr schon lange nicht mehr auf": Malinka nennt sich seit langem Clarisse und führt ein Leben fern von ihrer Mutter Ladivine. Nur wenn sie diese einmal im Monat besucht, wird sie wieder zu Malinka. In der kurzen Zeit ihres Zusammenseins lässt sie die Mutter sprechen, erzählt aber nichts von sich selbst: kein Wort darüber, dass sie verheiratet ist und mit wem, kein Wort darüber, dass sie auch eine Tochter hat. Die Mutter "fragte nichts mehr, erwartete nichts." Und umgekehrt wissen auch Mann und Tochter nichts von dieser Mutter.

Marie NDiayes Roman "Ladivine" erschien 2013 in Paris, im selben Jahr wie Karine Tuils Roman "L'invention de nos vies". Ist es ein Zufall, dass in Frankreich zur selben Zeit bei bedeutenden Verlagen zwei Werke erscheinen, in denen Leben neu erfunden werden und die Herkunft verleugnet wird, sogar die eigene Mutter? Oder liegt mit Diskriminierung und Flucht davor (an der die Protagonisten scheitern) ein Thema in der Luft, das beide Autorinnen unabhängig voneinander aufgegriffen haben?

Die Mutter als Dienerin

Nun sind die zwei Romane jedenfalls in deutscher Übersetzung erhältlich. NDiayes eigenartige Geschichte jener Tochter, die gegenüber ihrem eigenen Mann die Mutter verheimlicht und die die Mutter nicht teilhaben lässt an ihrem Leben, beginnt in jenem Moment zu einer erfundenen zu werden, als Malinka eines Tages von ihrer Mutter von der Schule abgeholt wird. Eine Mitschülerin fragt, wer diese Frau sei. Malinka antwortet: "Das ist meine Dienerin."

"Dienerin" wird die Mutter für die Tochter bleiben. Das erklärende Wort zu dem grausamen Verhalten des Mädchens wird von keiner der Figuren je ausgesprochen, es fällt überhaupt nur einziges Mal in NDiayes Text: Ladivine hat ihre verschwundene Tochter als Kellnerin in einem Café aufgespürt und besucht sie dort. Sie spricht sie dezent nicht mit ihrem Namen Malinka an, hält Distanz zur Tochter, als wüsste sie, dass die Tochter genau das wünscht. Dennoch fühlt sich Malinka/Clarisse von ihrer Chefin entlarvt: Denn diese "wußte alles und betrachtete Clarisse ohne Feindseligkeit, mit einer Art harter Betrübnis, als habe Clarisse sie getäuscht, was sie jedoch verstehen und dulden könne, dann schweifte ihr Blick noch über Clarisses lange Beine, ihre schmalen Hüften, ihr zartes Gesicht, diesmal wahrscheinlich nicht, um die Widerstandsfähigkeit dieses schlanken Körpers abzuschätzen, sondern um zu ermitteln, wieweit er dem anderen ähnelte, dem der Negerin, die sehr aufrecht am Fenster saß."

Hier fällt es also, das viel diskutierte N-Wort. Und nun verdeutlicht sich, was sonst nur aus Andeutungen erahnbar ist: Ladivine wurde von ihrer Tochter als "Dienerin" bezeichnet, weil sie eine Schwarze ist. Deshalb wollte das Schulmädchen sich nicht zu ihr bekennen. Denn es ist ein helles Produkt einer Liaison mit einem unbekannten Mann, man merkt ihr die dunkle Mutter offensichtlich nicht an.

Mit der Verleugnung ihrer Mutter kappt Clarisse ihre Beziehung zu ihrer Mutter und ihrer Herkunft, aber auch die gesellschaftliche Zuordnung und damit verbundene etwaige Diskriminierungen. Das ermöglicht ihr zwar ein anderes, neues Leben, doch sie zahlt einen hohen Preis dafür. Auch von diesem erzählt NDiayes Roman, das Verleugnen und Verschweigen zieht seine Spur bis ins Leben von Clarisses Tochter Ladivine.

Ihre beklemmende Geschichte gestaltet die 1967 geborene französische Autorin umso eindrücklicher, da sie ihrer psychologischen Erzählweise wie gewohnt fantastische Elemente einflicht: Da taucht etwa ein Hund immer wieder in der Geschichte auf, mit den Augen von Malinkas Mutter, da lebt ein gerade noch ermordetes Kind plötzlich wieder. Realität und Alptraum werden untrennbar, Schuld lässt sich nicht so einfach beseitigen, sie heftet sich an die Fersen, folgt auf den Fuß. Auch die Herkunft lässt sich nicht abschütteln, wird sie nun gewusst und absichtlich verleugnet, wie von Malinka/Clarisse, oder wird sie gar nicht gewusst, aber geahnt, wie von Enkeltochter Ladivine, die von ihrer gleichnamigen Großmutter gar nichts weiß. Als die Enkelin aber mit ihrem Mann und den beiden Kindern auf Urlaub fährt - wohin genau, wird nicht genannt, aber man ahnt, dass sich die Familie in einem afrikanischen Land befindet -, spürt sie das ihr Fremde seltsam vertraut ...

Reduktion auf Herkunft

Karine Tuils Roman "L'invention de nos vies" ("Die Erfindung unserer Leben") erschien unter dem Titel "Die Gierigen" auf Deutsch, das Cover unterstützt diese inhaltliche Stoßrichtung, das Thema der Gier nach Reichtum und Lust. Der Text fällt nicht aufgrund von Sprache oder Erzähltechnik auf, sondern weil die studierte Juristin der Gesellschaft kritisch auf die Finger schaut und den Zusammenhang von Sexualität und Macht deutlich macht - dabei gibt es durchaus Anspielungen auf real stattgefundene Ereignisse und real existierende Personen.

In diesem Roman ist es Samir Tahar, der seine Identität wechselt, er hat sich zu Sam Tahar gemacht. Ein Moment bei seinem Anstellungsgespräch entscheidet: er erfindet sich als Jude Sam, aus Sorge, als arabischer Jurist in Frankreich keine Anstellung zu bekommen. Von da an lebt er derart maskiert ein erfolgreiches Leben in den USA, verleugnet die eigene Mutter ebenso wie seine Herkunftsreligion. Samuel, sein jüdischer Freund aus Jugendtagen, aus dessen Biografie Samir Teile seines erfundenen Lebens gestohlen hat, wiederum nennt sich seinerseits anders, um antisemitischen Anwürfen in Frankreich zu entgehen.

Tuil zeigt eine verlogene Gesellschaft, deren sozial engagierte Mitglieder ihre "Bedienung" schwarz arbeiten lassen, während sie "sich Sorgen machten, wegen ihres Gewichts, wegen der Börsenkurse, besessen waren vom Verlust ihrer Jugend, ihres Kapitals, ihrer Haare." Interessanter aber - und darin trifft sie sich mit NDiaye - ist Tuils Darstellung der Diskriminierung durch die Reduktion von Menschen auf ihre Herkunft - und der daraus folgenden bzw. womöglich sogar vorauseilenden selbstzerstörerischen Selbstdiskriminierung.

Ladivine
Roman von Marie NDiaye
Übers. von Claudia Kalscheuer
Suhrkamp 2014
444 S., geb., € 23,60

Die Gierigen
Roman von Karine Tuil
Übers. von Maja Ueberle-Pfaff
Aufbau-Verlag 2014
479 S., geb., € 20,60

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung