Verloren im verlorenen Paradies

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Scheitern und künstlerische Kraft der Flucht aus der Zivilisation zu den "edlen Wilden". Zum 100. Todestag von Paul Gauguin.

Im Jahr 1889 schlendert ein hoffnungsvoller Quereinsteiger in die Malerei durch die Ausstellungen im sieben Jahre davor eröffneten Völkerkundemuseum "Musée d'Ethnographie du Trocadéro" auf der Suche nach Inspiration. Inmitten einer Unmenge von Objekten aus aller Welt hat es ihm eine kauernde Mumie aus Peru besonders angetan. Schließlich erinnert sie ihn an die Zeit, die er selbst in Peru verbracht hat, an seine Großmutter, die teilweise dort ihre Wurzeln hat. Schließlich ist auch er selbst davon überzeugt, "primitives" Blut in seinen Adern zu haben - gerne weist er darauf hin, dass es bei seinen Vorfahren eine Spur zu Sklaven auf Martinique gab. Getrieben von der Sehnsucht nach der Einfachheit im Leben so genannter Eingeborenenvölker durchwandert er im Museum das damalige französische Imperium: Indochina, Marokko, Tahiti. Die Museumsbroschüre, die den "glücklichen Einwohnern von Tahiti" unterstellt, dass sie "das Leben nur von seiner schönsten Seite kennen", überzeugt ihn offensichtlich, seine Zivilisationsfluchtwünsche mit dieser Insel zu verbinden. 1891 schifft er sich von Marseille aus dorthin ein, kehrt zwar 1893 nochmals kurz nach Frankreich zurück, aber schließlich wird Tahiti sein endgültiges Exil.

Tahiti - Gauguins Exil

Paul Gauguin, der diese Museumsbesichtigung unternommen hat, wird oft gemeinsam mit Paul Cézanne und Vincent van Gogh zum Triumvirat der wichtigsten Anreger der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts genannt. Begonnen hatte der Weg des ehemaligen Bankangestellten zum Maler, der seinen früheren Beruf für die Kunst an den Nagel hängte, in der Auseinandersetzung mit dem Impressionismus. 1879 machte ihn Pissaro mit der impressionistischen Malweise vertraut. Doch schon bald macht sich auch der Einfluss von Cézanne bemerkbar, Gauguin betont die Körperlichkeit seiner Figuren, seine Pinselstriche schaffen durch ihre rhythmische Aneinanderreihung Kraftzentren, dafür bekommen seine Gegenstände klare lineare Begrenzungen. Wie viele andere auch, beeindruckten ihn die japanischen Holzschnitte, die das erste Mal auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1867 zu sehen waren, nachhaltig. Er begeisterte sich für die Beschränkung auf das Zweidimensionale, für die reine Farbe ohne Modellierung und die Freiheit der Linie, die Gegenständlichkeit und dekorative Kraft auf diesen Drucken meisterhaft verband. Die Sehnsucht nach Einfachheit und Ursprünglichkeit ließ ihn nicht mehr los.

Archaische Sitten

So übersiedelt Gauguin 1888 in eine Künstlerkolonie in der Bretagne, nach Pont Aven, in ein "Land archaischer Sitten, von einer Atmosphäre, die sich sehr von unserer zivilisierten Welt unterscheidet", wie er an einen Freund schreibt. In der Verbindung aus der Malweise der Impressionisten, von Cézanne und der plakativen Flächigkeit der Japaner hebt Gauguin die naturalistische Perspektive noch mehr auf. Das Ziel seiner Malerei liegt nicht mehr in einem Nachmalen der Natur, nachdem für ihn Wahrnehmung nicht bloß das Aufnehmen durch das passive Auge ist, sondern gleichzeitig ein Handeln, ein Produzieren. Daher kann der Naturalismus nur einen Irrtum darstellen. Gauguin sieht sein "künstlerisches Zentrum im Gehirn", und dieses Zentrum verbindet sich interessanterweise mit der ursprünglichen Kunst. "Primitive Kunst kommt aus dem Geist und bedient sich der Natur. Die so genannte verfeinerte Kunst kommt aus der Sinnlichkeit und dient der Natur. Die Natur ist die Dienerin der einen und die Herrscherin der anderen Kunst. Aber die Dienerin kann ihre Herkunft nicht vergessen und erniedrigt den Künstler, indem sie ihre Anbetung zulässt. So sind wir in den schrecklichen Irrtum des Naturalismus verfallen, der bei den Griechen mit Perikles begann. Seitdem sind nur diejenigen wirklich große Künstler gewesen, die in irgendeinem Maße diesem Irrtum entgegenwirkten. Wahrheit liegt in einer reinen Geisteshaut, einer primitiven Kunst."

In der Zeit in Pont Aven findet Gauguin zu seiner eigenen künstlerischen Sprache, der Hintergrund auf seinen Bildern wirkt senkrecht aufgestellt, Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände sind beinahe ohne Modellierung gemalt, angeregt von der Technik des "émail cloisonné" umgrenzt er plan aufgetragene Flächen ungebrochener Farbe mit kraftvollen Konturen, um so die Leuchtkraft der Bilder aus dieser Kontrastierung heraus aufs Höchste zu steigern.

Aber die Bretagne bot Gauguin noch nicht ausreichend Ursprünglichkeit, zu nahe war Paris, zu leicht schwappte die Lebensweise der Bourgeoisie auch in diese französische Provinz. So erfüllte er sich seine tiefsten Sehnsüchte durch seinen Rückzug in die Südsee. "Hier, in völliger Stille, träume ich von gewachsenen Harmonien inmitten natürlicher Wohlgerüche, die mich berauschen. - Tierische Figuren von statuarischer Starrheit: etwas undefinierbar Altes, Erhabenes, Religiöses im Rhythmus ihrer Bewegungen, ihrer seltsamen Unbewegtheit. In Augen, die träumen, das verschleierte Bild eines unergründlichen Rätsels. - Mein Traum lässt sich nicht fassen, lässt keinerlei Allegorie zu."

Exotische Idylle zerbrochen

Aber schon bald beginnt das Paradies zu bröckeln, statt ins Paradies kam Gauguin in eine französische Kolonie mit Postamt, importierten Ölsardinen und Beaujolais, wovon er bis zum finanziellen Ruin Gebrauch machte, statt der edlen Wilden traf er auf Prostituierte, von denen er ebenfalls "Gebrauch machte", statt der reinen Kinder aus Arkadien umgaben ihn entwurzelte Mischlinge. Dennoch regt ihn die Umgebung zu Meisterwerken an, die trotz ihrer dekorativen Wirkung immer eine ideelle Aussage herausstreichen. Wie die meisten Symbolisten wollte auch Gauguin, dass seine Bilder einen moralischen Impetus haben, er verstand sich selbst eher als moralischer Lehrer denn als Ingenieur von visuellen Erfahrungen.

Musik der Farbe

Als Kind seiner Zeit findet sich auch bei Gauguin die Absicht, vor großen Publikum zu religiösen und ethischen Fragen Stellung zu nehmen. Sein Bild "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?" aus dem Jahr 1897 ist vollbefrachtet mit Symbolen, von der Tahitischen Eva im Zentrum, die eine Frucht vom tropischen Paradiesbaum pflückt, über die flüsternden Gestalten bis zur sybillischen alten Frau, die in der Position der Peruanischen Mumie aus dem Pariser Museum vor uns hockt. Es sei ein philosophisches Werk, schreibt Gauguin an einen Freund, über ein Thema, das mit dem Evangelium vergleichbar ist. In den Bildern aus dieser Zeit findet er zu neuen künstlerischen Ausgestaltungen. Von Romantikern und Orientalisten war er gewohnt, dass sie das Objekt ihrer Sehnsucht in exotischen Szenerien in erster Linie naturalistisch beschreibend dargestellt haben, Gauguin suchte nach einem bildnerischen Äquivalent und fand in der Farbe das geeignetste Mittel. "Die Farbe als solche ist rätselhaft in den Empfindungen, die sie in uns erregt. So muss man sie auch auf rätselhafte Weise gebrauchen, wenn man sich ihrer bedient, nicht zum Zeichnen, sondern um der musikalischen Wirkungen willen, die von ihr ausgehen, von ihrer eigenen Natur, von ihrer inneren, mysteriösen, rätselhaften Kraft." Die farblichen Harmonien sollen den seelischen Zustand übermitteln, sollen von den Rätseln der Seele und ihren geheimnisvollen Verbindungen zu den Welten außerhalb Kunde geben. Exemplarisch vorgeführt wird dieses Verlangen im zentralen Werk "Der Geist der Toten wacht", wobei nicht mehr christliche Inhalte in eine neue kulturellen Umgebung übertragen werden wie bei Bild "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?". Hier steht die indigene Vorstellungswelt von Toten und Geistern im Mittelpunkt.

Gauguin liefert eine suggestive Beschreibung der Entstehung dieses wichtigen Werkes: "Ich beginne mit dem liegenden Akt eines Kanakenmädchens, ohne eine andere Absicht, als einen Akt zu machen, wobei aber ein gewisser Ausdruck des Schreckens an dem Mädchen mich fesselt. In dem Tuch des Lagers gewinnt das Gelb einen eigentümlichen Charakter, es suggeriert die Vorstellung von künstlichem Licht und ersetzt dadurch eine Lampe, die zu banal wäre (die Kanaken lassen stets die ganze Nacht eine Lampe brennen, aus Angst vor Geistern). Die Blumen im Hintergrund bekommen Farben wie Phosphoreszenzen in der Nacht, diese bedeuten für die Eingeborenen, dass der Geist von Toten anwesend ist. Das Erschrecken des Mädchens ist jetzt inhaltlich erklärt. Der musikalische Teil, horizontale ondulierende Linien und Akkorde von Orange, Gelb, Blau und Violett, wird Äquivalent des literarischen Teils: der Geist eines Lebenden verbunden mit dem Geist eines Toten."

Gott für Poeten und Träumer

Gauguin träumt von einem neuen, heidnischen Europa, in dem aus einer eigenartigen Mischung aus unterschiedlichen Religionen Gott dem "theokratischen Regime der Priester und der priesterlichen Kaste, die sich katholische Kirche nennt", entrissen wird, wie er in "Der moderne Geist und der Katholizismus" schreibt, und wo Gott wieder den Poeten und Träumern zurückgegeben wird. Immerhin entstand das Bild "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?" mit seinen christlichen Elementen fünf Jahre nach "Der Geist der Toten wacht".

Buchtipp

Vorher und nachher - Lebenserinnerungen

Von Paul Gauguin, Neuausgabe

DuMont Buchverlag, Köln 2003

192 Seiten, geb., e 20,50

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