Verlorener Kreuzzug gegen die Ignoranz

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Schulbildung war den Sandinisten nach der Revolution in Nicaragua eines der wichtigsten Anliegen. Der Erfolg währte nicht lange. Heute besuchen 47 Prozent der Kinder im Schulalter keinen Unterrricht.

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Schulbildung war den Sandinisten nach der Revolution in Nicaragua eines der wichtigsten Anliegen. Der Erfolg währte nicht lange. Heute besuchen 47 Prozent der Kinder im Schulalter keinen Unterrricht.

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Nicaragua, 1979. Der langjährige Diktator Anastasio Somoza wird gestürzt. Nach der Revolution übernehmen die Sandinisten die Macht im Land. Eines der wichtigsten Anliegen der neuen Regierung ist eine grundlegende Verbesserung der Schulbildung. Denn die Analphabetenrate beträgt zu dieser Zeit 53 Prozent. In ländlichen Gegenden und in der Atlantikregion können gar 80 Prozent der Bevölkerung weder lesen noch schreiben.

Die Sandinisten starten einen nationalen "Kreuzzug gegen die Ignoranz". Tausende freiwillige Brigadisten ziehen in die Dörfer, um die Landbevölkerung zu unterrichten. "Die Alphabetisierungskampagne war der Höhepunkt der Revolution", erinnert sich Elmar Zelaya Blandon, einer der Brigadisten von damals: "100.000 Menschen wurden mobilisiert. Katholiken, Evangelische, Studenten, Lehrer, Arbeiter, Arme und Reiche. Alle, die für die Gesellschaft nützlich sein wollten." Die Analphabetenrate sank in den folgenden Jahren auf rund zwölf Prozent. Doch die Mittel für eine weitere Betreuung der Menschen fehlten, das Bildungsniveau konnte nicht gehalten werden. Schon Anfang der neunziger Jahre, zur Zeit des Regierungswechsels zu Violetta Chamorro, stieg die Analphabetenrate wieder auf 18 Prozent.

Heute, knapp zehn Jahre später, liegt sie wieder bei 35 Prozent. In einem kleinen Dorf im Norden Nicaraguas, nahe der Grenze zu Honduras lebt Julia. Die heute 40jährige ist nie zur Schule gegangen. Bis vor kurzem konnte sie nicht einmal unterschreiben. "Ich habe nichts gelernt, weil meine Mutter so arm war", erzählt sie. Spät holt Julia nun nach, was ihr als Kind nicht möglich war. Seit ein paar Monaten nimmt sie an einem Alphabetisierungskurs teil, den die private Frauenorganisation Fundacion entre Mujeres, kurz FEM, in dieser abgelegenen Region abhält. Und berichtet freudestrahlend, daß sie erst neulich ihren ersten Brief geschrieben habe, weil sie jeden Abend so fleißig übe.

Julia hatte Glück, zu FEM gestoßen zu sein. Denn staatliche Alphabetisierungsprogramme gibt es kaum mehr. Seit Jahren schon werden die Budgetmittel für den Bildungsbereich kontinuierlich gekürzt. Heute, unter der konservativen Regierung Aleman, sind gerade noch vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes für den Bildungssektor reserviert. Es fehlen Lehrer und Schulen. 3.000 junge Menschen lassen sich jährlich noch zu Lehrern ausbilden, halb so viele wie noch vor zehn Jahren. Gehälter von rund 70 US-Dollar machen diesen Beruf nur wenig attraktiv. Die Verfassung Nicaraguas sieht zwar den kostenlosen Schulbesuch für alle vor. Doch die staatlichen Schulen heben einen monatlichen Unkostenbeitrag von umgerechnet rund 20 Schilling ein. So viel, wie eine Kaffeepflückerin am Tag verdienen kann.

Zum Schulgeld kommen die Kosten für Schuluniformen, Schuhe, Bücher und Schreibmaterial - all das übersteigt die finanziellen Möglichkeiten von Familien mit mehreren Kindern. Und so geht heute in Nicaragua eine Million Kinder nicht zur Schule, das sind 47 Prozent aller Kinder im Schulalter.

Die große Armut im Land sei einer der Hauptgründe für den steigenden Analphabetismus, analysiert der Erziehungsexperte und Theologe Juan Zu den Ärmsten in Nicaragua gehören auch die Frauen auf dem Land. Sie besitzen meist keine Grundstücke und haben daher keinen Zugang zu Krediten, durch die sie ihre Lebenssituation verbessern könnten. Viele von ihnen sind alleinerziehende Mütter, leben als Wanderarbeiterinnen auf den Kaffeeplantagen von Großgrundbesitzern oder von der Subsistenzwirtschaft. Der gender-orientierte Unterricht der Fundacion entre Mujeres geht auf diese Lebensumstände der Frauen ein. Die Frauen sollen nicht nur Lesen und Schreiben lernen, sondern auch über ihre Alltagsprobleme sprechen können.

Nach dem Machtwechsel ließ der neue Erziehungsminister Humberto Belli, ein Mitglied von Opus Dei, als ersten Schritt alle Schulbücher austauschen. Heute wird in den Schulbuchtexten wieder ein ganz anderes Weltbild vermittelt: die Rolle der Frau wird auf Reproduktion reduziert, Jungfräulichkeit als Geschenk Gottes bezeichnet, Verhütungsmittel gelten als verpönt. Elmar Zelaya, der in Schweden zum Epidemiologen ausgebildet worden ist, versucht in seinen Studien und Forschungen, die sozialen und medizinischen Folgen des niedrigen Bildungsniveaus in Nicaragua aufzuzeigen. Kindersterblichkeit und Müttersterblichkeit sind beispielsweise wichtige Indikatoren für den Gesundheitsstatus eines Landes. Die Rate der Mütter, die während oder an den Folgen einer Schwangerschaft sterben, ist seit einigen Jahren in Nicaragua die höchste in Lateinamerika. Grund dafür ist der schlechte Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und vor allem mangelndes Wissen über Hygiene und Gesundheitsvorsorge. Früher Geschlechtsverkehr ist in Nicaragua ebenfalls weitverbreitet. "Vor allem auf dem Land sind Schwangerschaften oft erst 14jähriger Mädchen durchaus üblich. Jedes 4. Kind wird von einem Mädchen zur Welt gebracht, das zwischen 14 und 15 Jahre alt ist!" kennt auch die Soziologin Diana Martinez von FEM die Probleme, die mit mangelnder Bildung und Aufklärung Hand in Hand gehen. Durchschnittlich bekommt jede Frau auf dem Land 7,5 Kinder, in der Stadt sind es im Schnitt drei.

Nicaragua hat die höchste Fertilitätsrate Lateinamerikas. Nicht, weil sie es wollten, bekämen die Mädchen so früh Kinder, sagt Martinez.

Immer wieder macht Martinez Erfahrungen mit dem hohen Gewaltniveau in Nicaraguas Familien. Viele Jugendliche würden zu inzestösen Beziehungen genötigt oder von Vertrauenspersonen mißbraucht, von ihren Stiefvätern vergewaltigt oder von anderen Familienmitgliedern sexuell mißbraucht. "Je höher das Bildungsniveau der Frauen ist, desto eher können sie diese Gewaltsituationen verlassen", macht Elmar Zelaya auf die Zusammenhänge zum Bildungsniveau aufmerksam. Denn das Problem des Analphabetismus in Nicaragua ist vor allem ein soziales, und nicht nur ein pädagogisches.

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