Verlust der Gegenwart

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In Salzburg wird wieder fest gespielt. Durch Salzburg gehen, heißt durch eine gewachsene Festspielkulisse wandern, die den ehemals kunstsinnigen Fürsterzbischöfen zu verdanken ist.

Vielleicht sollte ich ein Geständnis ablegen. Als ich vor einiger Zeit bei strahlendem Wetter am Dom vorbei zur Franziskanerkirche und zur Kollegienkirche ging, kam mir der barbarische Gedanke, dass alles das niedergerissen werden müsste. Die verführerische Schönheit dieser Stadt legte sich wie eine Zwangsjacke um mich, jede Kirche, die ich betrat, versetze mich um Jahrhunderte zurück. Prälaten, Bischöfe, die darin amtierten, erschienen mir wie die Statisten eines Schauspiels aus lange zurückliegender Zeit, und ich, ein zufälliger Festspielbesucher, musste die Flucht ergreifen, um meine Gegenwart nicht zu verlieren.

Erinnern wir uns 20 Jahre zurück. 1987 wollte George Tabori, der eben verstorbene große Weise des Theaters, Franz Schmidts Buch mit den sieben Siegeln in der Kollegienkirche inszenieren. Er wurde aus der Kirche vertrieben. Das große Welttheater wird außerhalb des Doms gespielt. In der Kirche ist nicht mehr für Jedermann Platz, schon gar nicht für Künstler, deren Bilder und Redensarten so anstößig und brutal, so zärtlich und menschenfreundlich sind - wie die Bibel.

"Was ist bloß passiert mit unserer Zeitgenossenschaft. Und dem Ausdruck unserer Gegenwart?", fragte Festspielchef Jürgen Flimm bei seiner Eröffnungsrede. Auch auf einer Kanzel wäre das eine gute Predigt gewesen. Alle Festspielintendanzen haben dasselbe Problem wie die Kirche. Die alten Texte, die überlieferten Geschichten sind nicht veraltet, aber Liturgie und Dogmatik brauchen eine Neuinszenierung, um das Alte neu zum Sprechen zu bringen. Damit niemand auf die Idee kommt, die Schönheit der Tradition niederzureißen, weil in ihrer Zwangsjacke die Gegenwart erstickt.

Der Autor ist freier Journalist.

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