Thema: Gottes Gericht
Den Gedanken, Gott anzubeten und ein aufrichtiges Leben zu führen, nur um materielles Vergnügen zu erlangen bzw. aus Angst vor körperlicher Qual im Jenseits, empfinden viele als unbefriedigend. Für sie bietet sich eine andere Lesart des Bildes von Paradies und Hölle.
Diese Lesart sieht im Jenseits kein Gericht, sondern eine Phase der Transformation, bevor die Menschen zum ewigen Heil Gottes gelangen. Die Hölle ist kein Ort der Bestrafung, sondern steht symbolisch für die Qualen, die der Mensch im Lauf dieses Transformationsprozesses erlebt, wenn er mit der Wahrheit, mit seinem wahren „Ich“, mit seinen Verfehlungen, Schwächen und dunklen Seiten, konfrontiert wird. Wenn die Aufdeckung der Sünden und das Urteil über sie zu deren Ablösung führen soll, so setzt dies voraus, dass die Menschen ihre Verfehlung anerkennen. Das verursacht schmerz- und leidvolle Trauer über das Versagen der Zuwendung zu Gott. Das Ziel im Jenseits ist also die Vervollkommnung des Menschen durch die Befreiung von der Herrschaft der Sünde. Das Paradies ist ein Symbol für die Glückseligkeit des vollkommenen Menschen.
Im Koran heißt es in Sure 26:88: „An dem Tag werden weder Geld noch Kinder helfen; erfolgreich sein wird der, der mit einem gesunden Herzen zu Gott kommt“. Das kranke Herz muss vorher also therapiert werden. Wer dies nicht hier im Diesseits tut, muss es später im Jenseits nachholen. Das Jenseits legt offen, wo menschliches Leben im Widerspruch zur göttlichen Zuwendung stand. Damit hat das Jenseits den Charakter einer eigentlichen Befreiung zur Wahrheit durch Gott, durch welche wir zur Wahrheit über uns selbst finden. Nicht Gott braucht das Gericht um seine richterliche Macht zu demonstrieren, sondern der Mensch bedarf des Gerichts zur Vervollkommnung seiner selbst durch Konfrontation und Erkenntnis.
* Der Autor ist Islamwissenschafter und Imam in Wien
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