Viel gewußt, aber nichts getan

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Was wußten die Alliierten über den Holocaust? Ein Teil der Dokumente wurde freigegeben, andere bleiben unter Verschluß.

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Was wußten die Alliierten über den Holocaust? Ein Teil der Dokumente wurde freigegeben, andere bleiben unter Verschluß.

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Zur Haltung der Alliierten angesichts der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis bringt Richard Breitman neueste Forschungen in: "Staatsgeheimnisse - Die Verbrechen der Nazis - von den Alliierten toleriert". Was wußten Churchill und Roosevelt zu welcher Zeit tatsächlich vom Holocaust, wann und wie reagierten sie? Die Dokumente über das damalige Wissen der Amerikaner und Briten lagen jahrzehntelang unter strengem Verschluß in den Archiven.

Was man bisher über die Kenntnisse des Westens von den Judenmorden wußte, war so lückenhaft, daß die Historiker weitgehend auf Deutungen und Vermutungen angewiesen waren, und dies ließ viel Raum für persönliche Neigungen. Wie Breitman am Beispiel des britischen Historikers John Keegan zeigt, spielte unterschwelliger Antisemitismus bei solchen Auslegungen eine nicht unerhebliche Rolle. Durch die Informationen Breitmans erscheint jedenfalls ein guter Teil der Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte zu diesem Thema überholt.

Schritt für Schritt folgt er den Vorbereitungen der Nazis zum Judenmord und parallel dazu dem, was Vertreter der Westmächte und westliche Journalisten darüber erfuhren. An Hand von Dokumenten und Aussagen zeigt er, daß die "Endlösung" nicht erst am Wannsee beschlossen wurde. Noch vor Kriegsbeginn wurden die entsprechenden Vorbereitungen getroffen, wobei der sogenannten Ordnungspolizei eine Schlüsselrolle zufallen sollte. Sie stellte man aus der Landespolizei, vor allem aber aus den kasernierten Polizeieinheiten zusammen, die in den zwanziger Jahren zur Aufrechterhaltung der politischen Ordnung organisiert worden waren. Nun unterstanden die Bataillone der Ordnungspolizei der SS. Der britische Botschafter Sir Horace Rumpold und der amerikanische Generalkonsul George Messersmith hatten die Entwicklung seit 1933 genau mitverfolgt und entsprechende Berichte geschickt.

Die Berichte der beiden stimmten insofern überein, als sie eine extreme Verschärfung der Lage der Juden ankündigten. Doch ihr Blickwinkel war verschieden. Messersmith, ein ehemaliger Lehrer deutscher Abstammung, sah im Antisemitismus eine Wirkung der Nazipropaganda. Er leistete "hervorragende Arbeit" im Interesse der deutschen Juden, während Sir Rumpold gelegentlich "den nationalistischen Impuls der Deutschen zu teilen schien", wenn es um die Präsenz von Juden in verschiedenen Berufsgruppen ging. Beide waren allerdings wegen der Gefahr einer Flüchtlingswelle besorgt, die nach ihrer Ansicht die Aufnahmefähigkeit ihrer Länder überstiegen hätte. Sie warnten früh vor den Absichten der Nazis, "das Judenproblem zu lösen", ohne daß ihre Ministerien oder Regierungen weiter darauf reagiert hätten.

Die britische Abwehr hatte sehr früh die Verschlüsselungscodes der Funksprüche von Wehrmacht und SS geknackt - und damit auch die Botschaften der Polizeibataillone anläßlich der beginnenden Massenmorde in Polen. Zum Teil gelang dies, weil die Polizei einen überholten Code aus dem ersten Weltkrieg verwendete, zum Teil auch, weil die Polen eine deutsche "Enigma"-Codiermaschine nachgebaut und an die Briten weitergegeben hatten. Dank dieser Grundlage konnten die britischen Kryptologen auch spätere, bessere Codes knacken.

Aus den Dokumenten, zu denen Breitman schließlich Zugang bekommen konnte - das Material ist aber bei weitem noch nicht vollständig freigegeben - geht das Wissen des britischen Geheimdienstes hervor. Ihm war bekannt, daß die Nazis in den besetzten Gebieten der Sowjetunion sofort massenhaft Morde an russischen Gefangenen, Polen, vor allem aber Juden organisierten. Dabei, das ergab sich aus den Funksprüchen, wurden nicht nur in diesen Gebieten ansässige Juden ermordet, sondern bald auch Transporte von Juden aus Deutschland zur Vernichtung herangebracht.

Premierminister Churchill bekam diese Meldungen sehr früh auf den Tisch, und zwar täglich Kurzberichte mit ausgewählten Stellen, aus denen oft sogar die Zahl der von bestimmten Polizeibataillonen erschossenen Juden hervorging. Schließlich hielt er am 24 August 1941 eine Rede über den Rundfunk, in der er zum ersten Mal die massenhaften Erschießungen durch deutsche Polizeitruppen anprangerte. Obwohl er bereits besser informiert war, sprach er allerdings noch nicht von Juden, sondern von "sowjetischen Patrioten". Er habe die Situation insofern falsch eingeschätzt, als er die Massenmorde als Reaktion auf hohe deutsche Verluste deutete, meint Breitman. Später gab er Anweisung, wirksame Maßnahmen zur Unterstützung der Juden zu ergreifen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen.

Churchills Rede zeigte aber der SS-Führung, daß die Briten in der Lage waren, ihre Funksprüche zu entschlüsseln.

Sie veranlaßte Daluege, den Kommandeur der Polizeitruppen, ebenso wie die SS-Führung, die Zahl der Funksprüche einzuschränken und Botschaften über größere Erschießungen nur noch per Kurier zu überbringen und überhaupt mehr in Euphemismen zu sprechen, also etwa "Problem erledigt" statt "Exekution". Doch in der Zwischenzeit hatten Briten und Amerikaner durch Kuriere, Spione und nazigegnerische Deutsche Informationen erhalten, nach denen die Judenmorde in ein neues Stadium getreten waren. So brachte am 30. Juli 1942 der deutsche Industrielle Eduard Schulte, der in der Schweiz zu tun hatte, dorthin einen Bericht über die Vorbereitungen zur Massenvernichtung von Juden in KZs wie Auschwitz, den sein Schweizer Geschäftspartner an die Alliierten weiterleiten sollte. Ein polnischer Flüchtling brachte genaue Angaben über das Anlaufen der Vernichtungsmaschine in die Schweiz, ein Kurier der polnischen Exilregierung, der selbst in das dem Lager benachbarte Dorf Auschwitz gegangen war, um zu sehen, was dort ablief, reiste durch Deutschland, Frankreich und Spanien nach Gibraltar und von dort nach London. Er brachte auf Mikrofilmen Dokumente und einen ausführlichen Bericht über die Vorgänge.

Die Vertreter der Schweizer jüdischen Organisationen gaben die Berichte sofort an die britische Botschaft weiter, wo man sie aber für ungenau und übertrieben hielt. Sie leiteten stark gekürzte Versionen nach London mit der Bemerkung weiter, die Quellen seien unverläßlich, auch hätten die jüdischen Vertreter ein Interesse daran, zu übertreiben. Diese Haltung herrschte nicht nur im britischen, sondern auch im amerikanischen Außenministerium vor. In Großbritannien vertrat sie Außenminister Eden konsequent, in den USA mit etwas schlechterem Gewissen Außenminister Cordell Hull. Das gleiche gilt für die britischen und amerikanischen militärischen Instanzen, die keinerlei Neigung zeigten, sich für die Juden einzusetzen.

Die Argumente gegen eine entsprechende militärische Aktion waren immer wieder die gleichen: Es habe wenig Sinn, Bahnen und Brücken zu bombardieren, diese würden schnellstens wiederhergestellt werden. Es wäre zu schwierig, Auschwitz zu bombardieren, denn die eingesetzten Flugzeuge hätten nicht genug Treibstoff für den Rückflug. Tatsächlich wurden aber in der Nachbarschaft von Auschwitz Industrieanlagen bombardiert und die eingesetzten Flugzeuge kehrten problemlos auf die britischen Inseln zurück.

In den Ministerien auf beiden Seiten des Atlantik und in den Geheimdiensten gab es zwar genügend Mitarbeiter, die sich für eine wirkungsvolle Reaktion auf die Judenmorde einsetzten, doch gegen den latenten Antisemitismus des britischen Establishments setzten sich diese Personen nicht durch.

Erst, als sich der amerikanische Finanzminister Morgenthau resolut für eine amerikanische Aktion aussprach und entsprechend auf Roosevelt einwirkte, konnten die Widerstände auf dieser Seite des Atlantik etwas verringert werden. Dies führte unter anderem dazu, daß wenigstens rund 100.000 von über 800.000 Juden in Ungarn gerettet werden konnten. Der nun wachsende Druck der amerikanischen Regierung machte auch die Briten etwas williger, mehr Juden in Palästina aufzunehmen.

Doch in den britischen und amerikanischen Außenministerien saßen viele hochrangige Mitarbeiter, die jede Aktion, so auch in bezug auf die Bestrafung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bremsten. Und immer wieder stand das Argument gegen jede wirksame Maßnahme im Vordergrund: Wohin dann mit den vielen Flüchtlingen?

Staatsgeheimnisse. Die Verbrechen der Nazis - von den Alliierten toleriert. Von Richard Breitman. Karl Blessing Verlag, München 1999. 415 Seiten, geb., öS 328,

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