Viel zu teuer für Ein-Dollar-Menschen

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Die Getreidevorräte sind aufgrund vieler Ursachen geschrumpft, trotzdem gibt es noch genug Nahrung für die ganze Welt - der Hunger ist eine Folge von Armut, nicht von Knappheit.

Im indischen Bundesstaat Mizoram droht eine Hungersnot. Schuld ist eine Rattenplage, die einen riesigen Ausfall bei der Reisernte verursacht hat. Wenig Reis, mehr Hunger - logisch. Aber auch zuviel Nahrung führt zu Hunger: Vor einigen Jahren fiel die Hirseernte in Indiens Rajasthan sehr gut aus, "die beste Ernte seit zwanzig Jahren", jubelten die Bauern. Doch die Euphorie dauerte nicht lange: Als Folge der guten Ernte stürzte der Hirsepreis ab. Die Bauern weigerten sich, ihr Getreide zu verkaufen und verfütterten es an ihr Vieh. Wieder hungerten Menschen. Das Beispiel zeigt: Nicht die Menge an Nahrung ist entscheidend, ob Menschen hungern oder nicht, der Markt und seine Gesetzmäßigkeiten sind dafür ausschlaggebender als die Ernteerfolge auf dem Feld.

2200 Kalorien für jeden

Hunger beruht laut Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen nicht auf Knappheit, sondern auf Armut. Es gibt auf der Welt ausreichend Nahrungsmittel, rechnet die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO vor, um jeden Menschen täglich mit einer 2200-Kalorien-Ration aus frischem Obst, Nüssen, Gemüse, Getreide, Milchprodukten und Fleisch zu versorgen. Dennoch leiden 850 Millionen Menschen auf der Erde an Hunger, sterben 24.000 Menschen täglich an Unterernährung - und diese Zahl der Hungerleidenden und Hungertoten wird durch die akute Nahrungsmittelkrise steigen. Verantwortlich für die gegenwärtige Preistreiberei sind eine Reihe von Faktoren: Missernten, der hohe Ölpreis, der Dünger und Transport verteuert, die wachsende Nachfrage nach Fleisch und Milchprodukten in China und Indien, Börsenspekulationen und Korruption sowie die steigende Produktion von Biosprit.

Doch wieder gilt, was für das Leiden und Sterben an zuwenig Essen schon vor den aktuellen Hungersnöten gegolten hat: Es fehlt auch derzeit nicht an ausreichend Lebensmitteln, um alle zu ernähren, sondern es fehlt den Ärmsten am nötigen Geld, um sich die um vieles teurer gewordene Nahrung leisten zu können. Nobelpreisträger Sen nennt auch die unzureichende Nahrungsmittelverteilung als eine Ursache für Hunger - die Verteilung hängt jedoch wieder von Armutsfaktoren ab, denn wo es Abnehmer gibt, gründet sich ein Markt.

Seit Jahrzehnten wird die Armut dieser Welt an der Zahl jener Menschen veranschaulicht, die mit einem US-Dollar am Tag auskommen muss. Die Zahl dieser Menschen wächst - soll mittlerweile eine Milliarde betragen -, im Gegensatz zum Dollar, dessen Wert sinkt und für den man immer weniger bekommt. Die Ein-Dollar-Armen geben 50 bis 80 Prozent ihres Einkommens für Nahrung aus - Tendenz steigend.

Erfahrungsgemäß geht der Kalorienkonsum dieser Menschen bei einer zehnprozentigen Preiserhöhung um fünf Prozent zurück. Das bedeutet, dass mit jedem Prozent, um das die Preise für Nahrungsmittel steigen, die ausreichende Ernährung von weiteren 16 Millionen Menschen gefährdet ist. Dass diese Zahlen nicht nur statistische Spielereien sind, zeigen die sich wie ein Flächenbrand ausbreitenden Hungerrevolten auf den Philippinen, in Indonesien, Bangladesch, Pakistan, Peru, Haiti, Mexiko, Honduras, Ägypten (siehe Seite 3), Jemen, Mosambik, Kamerun, Elfenbeinküste, Mauretanien, Senegal … In Senegals Hauptstadt Dakar lässt sich ein weiterer Grund für die gegenwärtige Hungerkrise anschaulich machen: "Sandaga" heißt der größte Konsumgütermarkt Westafrikas im Herzen dieser Stadt. Auf dem lauten, farbigen, duftenden Markt kann man unter anderem Obst und Gemüse aus Portugal, Spanien, Frankreich, Italien und Griechenland kaufen - zu einem Drittel oder der Hälfte des Preises der einheimischen Produkte. Möglich sind diese europäischen Lebensmittel-Schnäppchen durch die Subventionspolitik der Europäischen Union an ihre Bauern, die als katastrophalen Nebeneffekt zur systematischen Vernichtung des afrikanischen Nahrungsmittelanbaus führt. Denn der senegalesische Bauer kann mit dem EU- oder US-Agrardumping nicht mithalten und steigt aus oder um. Auf Baumwolle zum Beispiel. Deren Anbau ist im Gegensatz zum Getreideanbau weniger armutsmindernd und der wasserintensive Anbau ist in der Sahelzone ökologisch fragwürdig, doch das "weiße Gold" geht in den Export, bringt Devisen und wird deswegen von den nationalen Regierungen - und den internationalen Kreditgebern - gefördert. "Sie sehen nur das schnelle Geld, machen aber damit einen Rechenfehler", sagte vor ein paar Jahren Zimapi Bayé, Genossenschaftspräsident aus Burkina Faso, im Furche-Interview, in dem er sich für die Getreideproduktion stark machte. Die Hungerrevolte in Burkina Faso vor kurzem hat Bayé Recht gegeben, doch nicht nur in Westafrika wollte man diese mahnenden Stimmen nicht hören.

Die Bewegung der Landlosen in Brasilien kritisiert seit Jahrzehnten den Ausbau der exportorientieren Monokulturen. Unter anderem der Soja-Anbau in industriellem Ausmaß hat Kleinbauern vertrieben. Den Großgrundbesitzern, die knapp ein Prozent der Bevölkerung ausmachen, gehört fast die Hälfte des fruchtbaren Bodens. Jenes Ackerbodens, der Millionen Brasilianer ernähren könnte, so aber das Futter für Millionen europäischer und amerikanischer Mastschweine liefert.

Futter für EU-Mastschweine

2004, mit dem Amtsantritt von Präsident Luis "Lula" da Silva, der sich dem Kampf gegen den Hunger verschrieben hatte, erhofften sich die Landlosen eine andere Politik. Vergeblich, vier Jahre Lula zeigen keinen Richtungswechsel. Lulas "Anti-Hungerminister" Patrus Ananias war letzte Woche auf Einladung der Diplomatischen Akademie in Wien. Im Gespräch mit der Furche verteidigte Ananias seine Politik, der vorgeworfen wird, sich auf soziale Kompensationsmaßnahmen für lokale Notfälle zu beschränken. Zum ersten Mal, so Ananias, sei es gelungen die Armutsrate unter 20 Prozent der Bevölkerung zu senken.

Doch der Minister gibt zu, dass es nicht leicht ist, die richtige Balance zwischen Nahrung, Umwelt und Energie zu finden; und es quält ihn die Sorge, dass "die Produkte zur Herstellung von Energie am Tisch der Armen fehlen". Herr Minister sitzt da leider einem Denkfehler auf: Lebensmittel sind genügend da, sie werden nur zu teuer für die Armen. Ananias und andere Politiker sollten Hungersnöte deswegen auch als Gradmesser für die Reife ihrer Politik betrachten. Denn Amartya Sen hat festgestellt, dass es in keiner funktionierenden Demokratie jemals zu einer Hungersnot gekommen ist.

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