"Viele sehen nur den Zeigefinger"

Werbung
Werbung
Werbung

Sowohl in der katholischen Kirche als auch an den Universitäten stoßen Frauen schnell an die gläserne Decke. Sigrid Müller hat mit ihrer Berufung zur Professorin für Moraltheologie in Wien beide Decken durchbrochen. Im Furche-Interview spricht sie über das Image, die Interessen und die Freiheiten ihres Fachs - und warum sie lieber "Theologische Ethik" dazu sagt.

Die Furche: Frau Professorin Müller, Sie sind die einzige Frau im deutschsprachigen Raum, die einen Konkordats-Lehrstuhl für Moraltheologie innehat - und in dieser Funktion auch für die Ausbildung des Priesternachwuchses zuständig ist. Waren Sie von Ihrer Berufung überrascht?

Sigrid Müller: Es hat mich schon überrascht, denn es war meine erste Bewerbung für eine Professur in Moraltheologie. Ich hatte zwar nie den Eindruck, dass es darauf ankommt, ob ich eine Frau oder ein Mann bin, doch war es bisher schon so, dass die Lehrstühle für Moraltheologie vorwiegend für Priester reserviert waren. Aber dadurch, dass die Bewerberlage anders geworden ist, hat es in den letzten Jahren auch schon Laien auf diesen Lehrstühlen gegeben - und nun hat es eben eine Frau geschafft.

Die Furche: Wie erklären Sie sich bis dato diese Priesterfixierung?

Müller: Es wird einfach von der Priesterausbildung her gedacht: Bereiche der Moraltheologie wie Schuld und Sünde stellen ja eine Vorbereitung zum Beichthören dar. Und es hat eine innere Logik, dass das jemand lehren soll, der auch diese Praxis kennt. Aber andererseits ist die Moraltheologie viel breiter geworden: Heute ist etwa auch die Psychologie ein wichtiger Gesprächspartner.

Die Furche: Oft hat man aber den Eindruck, dass sich die Moraltheologie mit Anfang und Ende des Lebens beschäftigt - und sich dazwischen nur für die Sexualmoral interessiert …

Müller: Die Ränder des Lebens sind sehr wichtig, weil sie Symbolwirkung für den Umgang mit dem Leben haben. Aber es gibt auch dazwischen sehr viele prekäre Situationen im Umgang mit dem Leben, die verstärkt berücksichtigt gehören: Wie leben Familien? Wo werden Kinder misshandelt? Wo gibt es Armutsgrenzen, die Menschen einschränken? Auch das Leben angesichts von Scheitern oder Arbeitslosigkeit und die Umweltethik gehören dazu.

Die Furche: Wie bewerten Sie insgesamt die gesellschaftliche Relevanz Ihres Faches, der Moraltheologie?

Müller: Man könnte es als Schlagwort sagen: "Im Mittelpunkt der Mensch!" Es geht darum, Wege aufzuzeigen, wie in unserer heutigen Gesellschaft Leben gelingen kann. Insofern betreiben wir keine Sondermoral im stillen Kämmerlein, sondern das ist ein Auftrag und ein Dienst an der Gesellschaft. Wir versuchen, das Leben insgesamt in den Blick zu nehmen und zu sagen: Es gibt Dimensionen, die nicht ökonomisch verwertbar sind und die man mit den besten Arbeitsmarktservice-Maßnahmen nicht schaffen kann. Das ist der Auftrag der theologischen Ethik …

Die Furche: Theologische Ethik?

Müller: Wir verwenden das synonym zur Moraltheologie. Jene, die sich unter Moraltheologie überhaupt etwas vorstellen können, sehen ja meistens nur den erhobenen Zeigefinger vor sich. "Theologische Ethik" kann aber jeder verstehen.

Die Furche: Apropos Zeigefinger: Der Moraltheologie haftet das Odium an, nicht frei zu sein, weil sie vor restriktiven Vorgaben des Lehramtes stehe …

Müller: Es stimmt, dass wir nicht nur wissenschaftliche, sondern auch kirchliche Verantwortung tragen - wobei wir aber die Freiheit haben, die Argumente abzuwägen und zu erklären. Das Problem ist eher, dass das kirchliche Sprechen oft sehr pointiert sein muss und oft nicht deckungsgleich ist mit dem, was moraltheologische Reflexion ausmacht, die ja vielschichtiger sein muss. Aber manchmal hat die Moraltheologie auch eine prophetische Funktion gegenüber dem Lehramt.

Die Furche: Zum Beispiel?

Müller: Zurzeit kann man etwa in den kirchlichen Dokumenten eine zunehmende Ablehnung der Todesstrafe beobachten. Das war lange Zeit nicht so.

Die Furche: Der Pontifikat Johannes Pauls II. hat in der Sexual-, Familien- und Ehemoral sehr strikte Vorgaben gemacht. Bemerken Sie unter Benedikt XVI. einen Unterschied?

Müller: Man beobachtet nur, dass sich Benedikt eher aus diesen Bereichen fern hält. Er hat interessantere Impulse für den interreligiösen Dialog und das Neubedenken des Verhältnisses von Vernunft und Glauben gegeben.

Die Furche: Überrascht Sie das? Schließlich kennt man Joseph Ratzinger aus der deutschen Diskussion um die kirchliche Schwangerenkonfliktberatung ganz anders …

Müller: Ich möchte das nicht vorschnell auf seine damalige Funktion zurückführen (Präfekt der Glaubenskongregation; Anm.). Wenn es darauf ankommt, würde er wohl wie Johannes Paul II. sagen, dass man darauf achten muss, dass nicht Handlungen anders gedeutet werden, als sie beabsichtigt sind: statt als Hilfe für die Frauen als Freibrief für die Abtreibung.

Die Furche: Diese Frage wurde zuletzt lehramtlich entschieden, obwohl die Ortsbischöfe anderer Meinung waren. War das für Sie in Ordnung?

Müller: Es gibt sicher Fälle, wo es gut ist, wenn Rom eingreift. Aber hier frage ich mich, ob es nicht etwas mehr Respekt gegenüber der Entscheidung der Ortsbischöfe, die ja die Lage sehr gut kennen, geben könnte. Das fände ich ein schönes Zeichen! Die Schwierigkeit der katholischen Kirche ist ja, dass sie versuchen muss, ganz disparate Räume und Kulturen zusammenzuhalten. Andererseits ist es auch ihre Stärke, dass sie mit einer Stimme sprechen kann.

Die Furche: Disparate Denkkulturen gibt es auch im interdisziplinären Dialog, den Sie - gerade mit den Bio- und Nanowissenschaften - forcieren wollen. Fühlen Sie sich als Gesprächspartnerin ernst genommen?

Müller: Das ist unterschiedlich. Manche können mit unseren Überlegungen gar nichts anfangen. Andere suchen das Gespräch und sagen: "Erklärt es mir einmal, denn wenn ich durch das Mikroskop schaue, dann sehe ich keinen kleinen Menschen, sondern nur ein paar Zellen!" Es gibt aber auch Biologen, die philosophisch oder religiös gebildet sind und mit denen es sehr interessante Gespräche gibt. Und für uns ist das wichtig, weil wir sehr oft Bezug nehmen auf naturwissenschaftliche Fakten. Auch aus wissenschaftstheoretischen Gründen ist Austausch wesentlich, weil die Naturwissenschaften ja keine allgemeine Sicht der Welt darlegen können. Nur wenn die Wissenschaften sehen, dass jede nur eine begrenzte Perspektive hat, die durch die Methode begründet ist, kann es zu fruchtbaren Gesprächen kommen.

Das Gespräch führten Otto Friedrich und Doris Helmberger.

Schwäbin mit Organisationstalent

Jung, weiblich, Mutter: Noch vor einigen Jahren hätte Sigrid Müller mit diesen Eckdaten keine Chance gehabt. Umso größer war die Überraschung, als nach der Emeritierung von Günter Virt die 43-jährige Schwäbin als Professorin für Moraltheologie an die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien berufen wurde - und auch vom Vatikan das Plazet bekam. Seit September 2007 ist sie nun in der Wiener Schenkenstraße aktiv - und voller Pläne: "Mein Traum wäre es, ein interdisziplinäres Doktoratskolleg aufzubauen, wo man fachübergreifend mit Biowissenschaftern, Soziologen, Medizinern und Philosophen Themen bearbeiten kann." Ihr eigenes Interesse ging am Beginn ihrer Karriere in eine andere Richtung: Inspiriert von ihren Lateinlehrern begann die in Salach (Baden-Württemberg) geborene und in der Pfarre aktive Schülerin in Tübingen das Studium der Lateinischen und Italienischen Philologie. "Erst mit der Zeit ist das zweite Fach, Theologie, relevanter geworden," erinnert sie sich. Müller absolvierte Studienaufenthalte in Cambridge und Sevilla (wo sie zur kirchlichen Familienberaterin ausgebildet wurde), promovierte in Tübingen, bekam mit ihrem Mann, einem Sozialwissenschafter, zwei Kinder, ging nach Nijmegen und Leuven und habilitierte sich 2006 für das Fach Theologische Ethik/Moraltheologie. Ihre Berufung nach Wien beschert der Katholisch-Theologischen Fakultät nun nicht nur einen Zuwachs an wissenschaftlicher Exzellenz, sondern auch die dritte (!) Frau in der Professorenschaft. Auch sie selbst wolle auf die Frauenquote achten, meint Müller: "So gut ich kann." DH

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung