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Nicaragua: Eindrücke vom Poesiefestival in einem faszinierenden Land.

Wer beabsichtigt, Nicaragua zu bereisen, und sich über Land und Leute informieren will, wird eine böse Überraschung erleben: auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ist zur Zeit kein einziger Reiseführer erhältlich; man muss schon auf antiquarische (wie Dietmar Schönherrs Nicaragua-Erinnerungen), spanisch-und englischsprachige Bücher oder das Internet zurückgreifen. Nach dem Boom der 1970er und 80er Jahre, als jeder fortschrittlich empfindende Katholik Ernesto Cardenals Evangelium der Bauern von Solentiname und Gedichte wie Gebet für Marilyn Monroe las und viele Jugendliche nach Nicaragua pilgerten, um die sandinistische Revolution zu unterstützen, die Alphabetisierung des Volkes voranzutreiben und gegen die Contras zu kämpfen, scheint das Land aus der Weltgeschichte ausgetreten zu sein, zumindest hat die westliche Welt das Interesse an ihm verloren. In der globalisierten, neoliberalen Welt wird, was ökonomisch oder medial nicht verwertbar ist, einfach ignoriert oder gleich totgeschwiegen.

Nicaragua im Abseits

Dem scheint Managuas kleiner Flughafen, der nur über mehrere Umwege von Europa aus erreichbar ist, trotz zaghafter Modernisierung Rechnung zu tragen: mehr als ein paar Individualreisende oder Engagierte wie jenes ältere Wiener Ehepaar, das seit Jahren hierher kommt, um eine Gemeinde im Norden des Landes zu unterstützen, und die beiden Oberösterreicher, die in der von Ernesto Cardenal und Dietmar Schönherr gegründeten Casa de los Tres Mundos arbeiten, verirren sich nicht in dieses vergessene Land.

Dabei hätte Nicaragua einiges zu bieten: neben einer turbulenten und für Lateinamerika typischen Geschichte, geprägt von Diktatur, Revolution, mühsamer Demokratisierung und wirtschaftlicher Konsolidierung, eine bezaubernde Landschaft voll Urwäldern, Vulkanen, Kaffeeplantagen und Stränden, angesiedelt zwischen Karibik und Pazifik mit dem für diese Region entsprechenden Flair, und - und das überrascht und beschämt zugleich den, wie er meint, gebildeten Mitteleuropäer - ein Poesiefestival, das nach jenem in Medellín, Kolumbien, das bedeutendste und medial beachtetste Lateinamerikas ist. Diesen Februar fand es zum dritten Mal in Granada - nach Managua und León die wichtigste Stadt Nicaraguas - statt, und es waren 140 Dichterinnen und Dichter aus 45 Ländern angereist, um fünf Tage lang auf den Plätzen, in den Straßen und den umliegenden Dörfern und Kleinstädten zu lesen. Gedichte, wohlgemerkt, und nur Gedichte.

Poesie auf allen Plätzen

Lyrik - oder besser: Poesie - besitzt in der spanischsprachigen Welt seit jeher einen höheren Stellenwert als beispielsweise in Deutschland und Österreich, und wo die Analphabetenrate besonders hoch ist, dort hat das Wort eines Dichters mehr Wert als das eines Politikers oder Wissenschafters, bannt es doch die Lebens-und Gefühlswelt der Menschen in eine "profunde" Sprache und transzendiert sie, wozu die Alltagssprache nie imstande ist.

Das wussten schon die Sandinisten und betrieben die Alphabetisierung der Bevölkerung mittels Dichtung, und das ahnen oder besser: wissen auch heute noch die Analphabeten oder des Lesens und Schreibens nur wenig Kundigen. Anders ist es nicht zu erklären, dass sich neben Kindern, Schüler und versprengte Touristen zahllose Campesinos und Tagelöhner unter das Publikum mischen, das untertags zu Hunderten und am Abend bis spät in die Nacht hinein zu Tausenden die Plätze bevölkert und mit einer Ausdauer und Begeisterung den Gedichten in fremden Idiomen und Übersetzungen lauscht, die Europäer - namentlich deutschsprachige - nur beschämen können.

Ignoranz zu Grabe getragen

Wo in Österreich oder Deutschland wäre zum Beispiel ein Carnaval de Poesía möglich mit einer fahrbaren Tribüne, von der aus an jeder Straßenkreuzung Dichterinnen und Dichter lesen, immer wieder unterbrochen von Viva la poesía-Rufen, mit traditionellen Tänzen und Musikgruppen, die die Stadt in einen Taumel versetzen, und vorneweg einem Leichenwagen, in dem - ja, man glaubt es kaum! - die Ignoranz zu Grabe getragen wird? Und wäre es bei uns möglich, dass sich auf einem Schriftstellerkongress Dichter vom Kaliber eines Peter Handke, einer Elfriede Jelinek oder eines Robert Menasse in brütender Mittagshitze um Essensmarken und danach um das eher bescheidene Mahl anstellen und dabei die Gelegenheit für einen zwanglosen Plausch mit einem ihnen unbekannten Dichter nützen?

In Granada (und nicht nur dort) ist es möglich: da wurde in der langen Reihe der geduldig Wartenden die international berühmte und im eigenen Land längst zur Ikone gewordene Gioconda Belli ebenso gesichtet wie die kleine gebeugte Gestalt des mittlerweile 80-jährigen Cardenal.

Wenige Villen, viele Hütten

Wieviel Aufholbedarf das Land nach den Jahrzehnten des Somoza-Regimes und der von den USA erfolgreich torpedierten sandinistischen Revolution hat, zeigen allerdings schon ein flüchtiger Blick auf die Hauptstadt oder eine kurze Fahrt über Land: neben den wenigen solide gebauten Häusern und Villen der Reichen, die sich diskret im Hintergrund halten und wie der Rest der Bevölkerung - allerdings unter umgekehrten Vorzeichen - auf eine Besserung der Lage hoffen, ein Meer an Hütten, zusammengezimmert aus Brettern, Wellblech und Eisenabfällen, verdreckte, halbnackte Kinder, die wohl kaum ihre hungrigen Mägen gefüllt bekommen, verkommene touristische Einrichtungen, weil zahlungskräftige Gäste weit gehend ausbleiben und damit notwendige Devisen fehlen, von Schlaglöchern übersäte Straßen, deren Belag aufgebrochen oder weit gehend verschwunden ist, aber nicht erneuert wird. Da bleibt vielen nichts anderes, als Bettelei, dunkle Geschäfte oder einfach Straßenraub zu betreiben.

Elend und Straßenraub

Ausgerechnet ein Teilnehmer aus dem ehemaligen Ostblock musste diese unliebsame Erfahrung machen: auf seinem morgendlichen Spaziergang hinunter zum See wurde er Opfer eines Raubüberfalls und kam glücklicherweise mit ein paar Schrammen davon. Die Kamera allerdings war weg und mit ihr wohl auch das trügerische Gefühl, im karibischen Paradies ein paar unbeschwerte Tage unter Gleichgesinnten verbringen zu können.

Dichtung kann die Welt nicht ändern - eine Binsenweisheit, derer sich sämtliche Teilnehmer an diesem in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Festival de Poesía bewusst waren und dies auch immer wieder thematisierten -, aber sie kann sie verzaubern und, was in einem Land wie Nicaragua noch wichtiger erscheint, reflektieren. Dies bekundete der Direktor des Festivals Francisco de Asís Fernández in seinem Elogio de la Poesía: "Ich vertraue darauf, dass die Poesie den wahren Menschen enthüllt, und ich vertaue darauf, dass die Poesie den Menschen dazu bringt, sich zu erheben. Ich vertraue auf die Rebellion der Poesie so wie ich auf das Leben vertraue."

Die Rebellion der Poesie

Eine Begebenheit, wie sie nicht untypisch für Nicaragua und seine Menschen ist (ich denke nur an die vielen Schülerinnen und Schüler, die sich nicht bloß um Autogramme anstellten, sondern auch um Bücher baten), bestätigt und erhellt dies: Auf dem Weg in eines der Dörfer am Land musste unser Fahrer tanken. Als er dem Tankstellenwärter erklärte, welche Fracht er in seinem Wagen habe, hielt dieser einen Zettelblock durch das Fenster mit der Bitte an die bunt zusammengewürfelte Schar von Dichterinnen und Dichtern, ein oder mehrere Gedichte aufzuschreiben und ihm auf der Rückfahrt den Block wieder zurückzugeben. Im Rückspiegel war noch lange die Gestalt des winkenden Mannes zu sehen und sein begeisterter Ruf hallte mir noch Stunden später wieder im tausendfachen Echo der Abendveranstaltung: "Viva la poesía!"

Der Autor lebt als Schriftsteller und Lehrer in Niederalm bei Salzburg.

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