Völkerball am 38. Breitengrad

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Die Schritte hinter ihnen kamen immer näher. Das Keuchen der beiden Brüder verschmolz zu einem Laut. Besinnungslos rannten sie am Baugerümpel vorbei, als Junshik hörte, wie Minu hinter ihm stolperte. [...] Junshik stockte der Atem, als er die Szene verfolgte. Selbst als sie seinen Blicken entschwunden waren, konnte er sich nicht vom Fleck bewegen. Von irgendwoher stieg Gestank auf. Er hatte sich in irgendeiner Schmiere aufgestützt und merkte nun, dass er sich mitten in die Scheiße gesetzt hatte."

Koreas Gretchenfrage

Lee Changdong hält in seiner Erzählung "Die Sympathie der Goldfische" die traurige Essenz der wichtigsten Motive in der koreanischen Literatur fest: Verfolgung, Angst und Elend.

Im Gegensatz zu seinen Gastgebern wartet das diesjährige Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse immer noch vergeblich auf eine Wiedervereinigung. Zwar haben sich in den letzten Jahren Gesprächsbereitschaft und diplomatische Beziehungen verbessert, doch ist es für die beiden Korea immer noch ein weiter Weg in die (gemeinsame?) Freiheit, und das prägt auch die Literatur. Sie steht im Zeichen der Teilung, die Grenzen gehen mitten durch Familien, mitten durchs Leben. Was wir nun auf Deutsch zu lesen kriegen, kommt in erster Linie aus dem Süden, Nordkorea ist eher indirekt präsent, allgegenwärtig aber die Gretchenfrage nach "rot oder weiß", nach Kommunismus oder Kapitalismus. Wer sich im Norden den Kommunisten widersetzt, hat es ebenso schwer wie der, der sich im Süden zu ihnen bekennt. Die Erfahrung der Unterdrückung machten beide Korea, nur unter entgegengesetzten Vorzeichen. Ein Völkerballfeld der Weltgeschichte, der 38. Breitengrad als Mittellinie. Und jenseits lauert das feindliche Territorium der ehemaligen Landsleute. Und die Wurzeln einer Kultur. Aber Literatur setzt sich über Staatsgrenzen hinweg. Nicht nur über jene zwischen Nord- und Südkorea. Da kann auch einmal ein Chinese die Geschichte der Kriegsgefangenen im Koreakrieg erzählen, wie Ha Jin in "Kriegspack".

Etliche der 4338 Jahre koreanischer Geschichte seit dem mythologischen Beginn 2333 v. Chr. waren bestimmt vom Tauziehen um einzelne Gebiete. Schon in der ausgehenden Antike und bis ins anbrechende Mittelalter lieferten sich drei verfeindete Reiche (Koguryo, Shilla und Paekche) Hegemonialkämpfe, später gab es ständige Auseinandersetzungen mit mongolisch-chinesischen Nachbarn; nach 300 Jahren mehr oder weniger erfolgreicher Eroberungen setzt sich Japan im 19. Jahrhundert schließlich im Kampf um die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft gegen China und Russland durch. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Japaner in Korea das Sagen, nach dem Koreakrieg schaffen sich die beiden Landeshälften jeweils ihre eigene Diktatur. Der Krieg ist offiziell noch gar nicht beendet, es herrscht lediglich Waffenstillstand seit 1953. Und seit 2000 immerhin auf beiden Seiten der Wille zur innerkoranischen Zusammenarbeit, gesäumt von diversen Gipfeltreffen.

Dichter müssen weinen

Von dieser bewegten und oft traurig-ohnmächtigen Geschichte dieses Volkes zweier Länder handeln viele Texte der koreanischen Gegenwartsautoren, die Unterdrückung und Verfolgung oft aus eigener Erfahrung kennen. "Der Dichter muss viele Tage geweint haben, bevor er zum Dichter wird. / Als Dreijähriger schon / muss der Dichter geweint haben für andere", bringt es der bekannte Lyriker Ko Un auf den Punkt. Und auch Hwang Sok-yong (siehe Kasten), einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Südkoreas, kann ein Lied davon singen. Er lebt wie einige andere seiner Kollegen heute im Exil und kämpft mit der Waffe des Wortes nach wie vor für mehr Gerechtigkeit in der Heimat.

Made in Korea

Die meisten Romane, Gedichte und Erzählungen haben eines gemeinsam: sie zeigen - aus unterschiedlichsten Perspektiven - wie Individuen vom Lauf der Geschichte aufgerieben werden. Oder sie zeigen, wie private Beziehungen im Kleinen ebenso scheitern wie Packeleien im Großen. Sie demontieren verlogene Fassaden und verteidigen die Menschenrechte ihrer Leser. Kaum ein Text, der nicht zumindest am Rande auf Politisches Bezug nimmt. Und dabei steht im Hintergrund ganz groß: Es gibt ein Leben nach der Politik! Verschont uns mit euren Ideologien ...

Die Texte vermitteln aber auch einen tiefen Einblick in koreanische Traditionen, in den Widerstreit von modernem Leben und patriarchalischen Strukturen und sie zeigen Armut, eine Gesellschaft, in der sich nicht selbstverständlich jeder leisten kann, was "Made in Korea" im Westen zu Dumpingpreisen verkauft wird. Was sich diese Gesellschaft jedoch leistet, ist eine reiche Literatur. Es wird viel gelesen und geschrieben. Im "Großen Lexikon der koreanischen Gegenwartsliteratur" sind mehr als 900 Autorinnen und Autoren verzeichnet, auch Lyrik erfreut sich einer hierzulande unvorstellbaren Beliebtheit und kommt zum Teil auch ziemlich alltagsnah daher. Der tägliche Überlebenskampf wird Poesie. Und jene fragt: "- ob in geraubte Felder auch der Frühling kommt?" (Yi Sanghwa: Geraubtes Land. In: Wind und Gras. Moderne koreanische Lyrik)

BUCHTIPPS

DIE SYMPATHIE DER GOLDFISCHE

Neue Erzählungen aus Südkorea

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2005

287 Seiten, brosch. e 15,50

DIE STERNE ÜBER DEM LAND DER VÄTER

Gedichte von Ko Un

Aus dem Koreanischen von Woon-Jung Chei und Siegfried Schaarschmidt

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1996

105 Seiten, geb., e 11,10

Koreanische Literatur bei

dtv, München 2005:

WIND UND GRAS

Moderne koreanische Lyrik.

Anthologie, hrsg. und aus dem Koreanischen übersetzt von Marion Eggert.

TB, 153 Seiten, e 12,90

KOREANISCHE ERZÄHLUNGEN

Herausgegeben und literarisch

überarbeitet von Sylvia Bräsel und

Lie Kwang-Sook

TB, 253 Seiten, e 8,80

DER FERNE GARTEN /

DIE GESCHICHTE DES HERRN HAN

Romane von Hwang Sok-yong

Aus dem Koreanischen von Oh Dong-sik, Kang Seung-hee und Torsten Zaiak

broschiert, 520/134 Seiten,

e 15,50/12,40

KRIEGSPACK

Roman von Ha Jin

Aus dem Englischen von

Susanne Hornfleck

Klappenbroschur, 460 Seiten,

e 25,90

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