Vom epischen Versagen der Literaturkritik

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Fräuleinwunder, Migrationsroman: Wer glaubt eigentlich noch an diese Erzählgeister der Kritiker? Statt immer nur die zweite Geige zu spielen, nehmen die Kritiker dann manchmal selbst die Autorenfeder zur Hand. Neue Beispiele zeigen: Das geht nicht unbedingt gut.

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Fräuleinwunder, Migrationsroman: Wer glaubt eigentlich noch an diese Erzählgeister der Kritiker? Statt immer nur die zweite Geige zu spielen, nehmen die Kritiker dann manchmal selbst die Autorenfeder zur Hand. Neue Beispiele zeigen: Das geht nicht unbedingt gut.

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Auch Literaturkritiker haben etwas zu erzählen. Denken sie. Deshalb schreiben sie längst keine abgerundeten Buchkritiken mehr, sondern Essays. Der literaturkritische Essay will ein Kunstwerk sein. Er entzündet sich gern an einem Werk oder an einem Thema, um eine steile These oder einfach nur ein typisches Kritiker-Narrativ zu entwerfen. Das dient dann als Aufmerksamkeitsmerkmal des individuellen Rezensentenstils und sorgt für unruhige Sekundärdebatten. In unregelmäßigen Abständen geistern diese Erzählgespenster durch den Literaturbetrieb, vom Fräuleinwunder über den Berlinroman bis zum Migrationsroman. Dass unter den Autoren so recht niemand an diese Erwartungsbilder glaubt, scheint die Kritiker zu grämen. In ihrer Überzeugung, immer nur die zweite Geige zu spielen, möchten sie dann selbst manchmal die Autorenfeder in die Hand nehmen. Kann das gut gehen?

Bekannt ist der ehrgeizige Griff Marcel Reich-Ranickis nach dem Büchner-Preis, Deutschlands höchster Literaturdekoration. Der 2013 verstorbene Literaturkritiker hat ihn zeitlebens nicht bekommen. Dabei hat der bekennende Liebhaber der deutschen Literatur, der lieber nachprüfte und nörgelte als Bücher-Smileys verteilte, womöglich mehr in literarischer Absicht geschrieben als gelesen.

Postum ist, herausgegeben von Thomas Anz, Marcel Reich-Ranickis "Meine Geschichte der deutschen Literatur" (DVA 2014) erschienen, eine Ahnengalerie von Kritiken klassischer und moderner Werke, entlang der Lieblingslektüren des Meisters. Aber eine Literaturgeschichte ist das nicht. Das Narrativ von der "Geschichte", die hier erzählt wird, setzt einen Kritiker voraus, der zugleich Geschichtenerzähler und Literaturhistoriker sein will. Dieses Modell hat Reich-Ranicki zeitlebens als multimedialer Star-Anwalt der Literatur inszeniert, mit dem Gesicht zum Publikum.

Das Gegenmodell verkörpert Fritz J. Raddatz, der sich Anfang 2015 das Leben nahm. Raddatz war mehr Richter der Literatur als ihr Anwalt, er beobachtete die Bücherwelt wie ein eifersüchtiger Liebhaber und schonte kaum einen, auch sich selbst nicht, mit seiner scharfzüngigen Offenheit. Etwa, wenn er nach der Teestunde beim Bundespräsidenten sein Unbehagen notierte, dass Tee und Wasser gleichzeitig serviert wurden.

Raddatz' Tagebücher, 2010 und 2014 bei Rowohlt erschienen, sind ein episches Logbuch des deutschen Kulturbetriebs nach 1980. Raddatz, dessen frühen dichterischen Versuchen kein Erfolg beschieden war, was vielleicht auch mit unglücklichen Prosatiteln wie "Kuhauge" zu tun hatte, hat als Diarist eine besondere Autorenmarke gesetzt. Seine Tagebücher sind schnorrige Erzählungen aus dem "Wanderzirkus"(Hans Magnus Enzensberger) der kulturellen Primärund Sekundärproduzenten, muten aber oft wie unglücklich abgebrochene Romanversuche an, die anekdotisch schön ausgeleuchtet sind, doch nicht dazu angetan, aus dem Kritiker einen besseren Autor zu machen.

Aufstiegsfantasien

Und was geschieht, wenn Kritiker direkt aufs Romaneschreiben verfallen? Ihre Motive sind wohl weniger interessant, sie reichen von Aufstiegsfantasien in die literarische Primärliga bis zu lang verdrängten Kreativ-Ambitionen aus jungen Jahren. Wichtiger scheint es, darauf zu achten, auf welche Weise und mit welchen Mitteln diese Kritiker sich der epischen Kunst bemächtigen. Es ist die Geschichte der Überschreibung der deutschen Gegenwartsliteratur als freundliche Übernahme durch die Literaturkritik.

Der Spiegel-Kritiker Volker Hage hat ebenso wie der Kritiker Hajo Steinert vom Deutschlandfunk im Frühjahr 2015 einen Roman publiziert. Jeweils ein spätes Debüt, Steinert ist Jahrgang 1952, Hage drei Jahre älter. Beide vertreten einen feuilletonistischen Stil, der Achtsamkeit gegenüber dem besprochenen Werk mit pointiertem Ausdruck vereint. Literaturbewertung als Fachkritik aus der ersten Reihe sozusagen, ohne Anspruch auf notable Selbstgeschichtsschreibung oder Literaturbetriebs-Chirurgie. Das ist das eine. Mit dem Romaneschreiben tun die Kritiker vielleicht sich und manchen neugierigen Lesern einen Gefallen. Der Gegenwartsliteratur aber wohl nicht.

Hages Roman "Die freie Liebe" (Luchterhand 2015) führt in das Münchner Studentenmilieu der 1970 Jahre, die Ulrich Raulff als Jahre des wilden Denkens bezeichnet hat. Wild ist hier aber allenfalls die Beziehung der Protagonisten Andreas, einem Schauspieler, und Larissa, einer Kindergärtnerin. Sie wird durch einen störenden Dritten, den angehenden Regisseur Wolfgang, gehörig durcheinandergewirbelt. Man sieht Filme, liest amerikanische Autoren, liebt sich und lässt Luft ab vom Liebesleidensdruck.

Hages Buch ist in Tagebuchform gehalten und hat einen Rahmen. Der halbfiktive Ich-Erzähler in der Gegenwart (im "Mai 2012", heißt es) ist Wolf, Redakteur beim NDR, jetzt Regisseur, unter anderem für den "Tatort". Er findet, "tief vergraben" im Kleiderschrank, eine Erinnerungsschachtel mit Unterlagen aus den Studentenjahren. Dieser Erinnerungsrahmen hat eine zweite, sozusagen literarhistorische Dimension, die durch ein als Motto dienendes Werther-Zitat besiegelt wird: "Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart". Bekanntlich schreibt das Werther über seine unerreichbare Liebe, über Lotte. Und natürlich tragen Hages Figuren die gleichen Anfangsbuchstaben wie Goethes Romanhelden: Werther-Wolf, Albert-Andreas und Lotte-Larissa. Also doch: Zeitkritik im Gewand der Epik, mit der Schleppe des Kanons. Die Form ist überdeutlich, ein Thesenroman, schulgemäß erzählt, aber nicht wirklich originell.

Ähnlich Hajo Steinerts Roman "Der Liebesidiot"(Knaus 2015). Hier ist der Außenbau etwas filigraner. Die Rahmenhandlung spielt in einer siegerländischen Reha-Klinik. Hierher hat sich der 56-jährige Sigmund Seiler zurückgezogen, um seinen Liebeskummer auszukurieren. Oder sollte man sagen, sein Problem zu lösen, das mit der Erotisierung des öffentlichen Lebens zusammenhängt, die durch die digitale Revolution zusätzlich beschleunigt wird. Unser Held ist Rundfunk-und Werbesprecher, er setzt auf Stimmen und Töne und hat sich in der Kantine mit unglücklichen Hoffnungen in eine junge Schönheit verliebt, die "Gyros mit Pommes frites und Krautsalat, bitte. Ohne Zaziki" bestellt, mit Betonung auf dem "oh" in "ohne". Simonetta wird zur Muse des Erzählens, das sich keine Pointe und Zote schenkt, die mit den neuen Leiden eines alten Werthers verbunden werden kann. Denn dieser Sigmund erscheint als ein Schwerenöter und Jammerlappen, der sich im Internet Ersatzbefriedigung sucht und dem Erlebten, wie es einmal heißt, zu sehr nachhängt, als dass er imstande sein könnte, spannend vom Erleben zu erzählen.

Genre-Idol Liebesroman

Scheidung, Patchwork, Alleinerziehung hier, freie Liebe, sexuelle Revolution da: Beide Romane zielen offenbar auf das Genre-Idol 'Liebesroman'. Und verfehlen es. Wo bleiben die ästhetischen Errungenschaften aus der Tradition realistischen Erzählens, die Emma Bovary leiden, Effi Briest lügen und Anna Karenina lieben lassen? Die "Details im Dienst" (James Wood), die motivischen Netzwerke, die Dramaturgie von "Willkommen und Abschied" und so weiter.

Zugegeben, viel haben die Kritiker gelesen. Besser als die von ihnen besprochenen Autoren sind sie dadurch nicht geworden. Schade eigentlich! Denn der Literatur der Gegenwart würde eine Zellauffrischung gut tun, zumal im Bereich von Liebe und Erotik. Hage und Steinert lassen ihre Helden ein Liebestagebuch schreiben bzw. sprechen. Das ist ein altertümliches Transportmedium der Liebe. Wer schreibt heute noch so, wer soll so etwas lesen, wird man fragen dürfen. Vielleicht wird es bald einmal den ersten Liebesroman geben, der sich der Beziehungskommunikation auf What's App annimmt, dem weltweit größten Dienst für Instant Messages, der die Fragmente einer Sprache der Liebe auf ganz neue Weise zusammengewürfelt hat.

Karl Kraus erzählt die Entstehung der modernen Literatur so, dass zunächst einer vom Verleger ein Rezensionsexemplar zugeschickt bekommen und dann eine Rezension geschrieben habe. Daraufhin habe er ein eigenes Buch geschrieben, welches der Verleger wiederum als Rezensionsexemplar weitergab. "Der nächste, der es bekam, tat desgleichen". Eine unwahrscheinliche und vielleicht auch gar nicht wünschenswerte Erscheinung, dass jeder, der Rezensionen schreibt, auch gute Romane schreibt.

Meine Geschichte der deutschen Literatur

Von Marcel Reich-Ranicki

Hrsg. v. Thomas Anz

DVA 2014

576 Seiten, geb., € 27,80

Tagebücher

Von Fritz J. Raddatz

Rowohlt 2014

720 Seiten geb., € 25,70

Die freie Liebe

Roman von Volker Hage

Luchterhand 2015

160 Seiten, geb., € 17,50

Der Liebesidiot

Roman von Hajo Steinert

Knaus 2015

288 Seiten, geb., € 20,60

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