Vom Kannibalen bis zum Herminator

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Bei genialen Athleten wird das Siegen schön: Sie schenken uns unter höchstem Druck Augenblicke der Perfektion. Zur Ästhetik des Sports.

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Bei genialen Athleten wird das Siegen schön: Sie schenken uns unter höchstem Druck Augenblicke der Perfektion. Zur Ästhetik des Sports.

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In den siebziger Jahren nahm mich mein Vater an einem Sonntag mit zum Union-Rennen, einem damals jährlich auf einem Rundkurs in Dortmund stattfindenden Radsportklassiker. Als wir uns an einem Streckenabschnitt positioniert hatten, war das Rennen bereits voll im Gange. Das Erste, was ich in Entfernung auf der Strecke wahrnahm, waren keine Radrennfahrer, sondern ein Begleitfahrzeug. Erst dann realisierte ich, dass neben dem Wagen freihändig und gemütlich in aufrechter Position ein Radrennfahrer fuhr, der abwechselnd den Zuschauern zuwinkte und sich mit den Leuten in dem Wagen unterhielt. Von meinem Vater erfuhr ich, dass es sich bei dem Sportler um Eddy Merckx handelte, den weltbesten Radrennsportler seiner Generation.

Training und Talent

Etliche Minuten, nachdem Merckx aus dem Blickfeld verschwunden war, kam ein riesiger Pulk an Radrennfahrern herangebraust und zischte an uns vorbei. Es brauchte einige Zeit, bis ich verstand, dass der zuvor an uns vorbeiflanierende Merckx keinesfalls das Rennen aufgegeben hatte und nun gemütlich dem Feld hinterherfuhr. Im Gegenteil: Er lag uneinholbar in Führung. Mein erster Eindruck vom Profiradsport war somit paradox: Derjenige, der am schnellsten sein sollte, fuhr am langsamsten an mir vorbei, während die anderen ihm vergeblich hinterherrasten. Eddy Merckx wirkte auf mich wie ein über dem Rest des Feldes thronender, mit göttlichen Kräften ausgestatteter Held, den die anderen nie erreichen konnten, so sehr sie sich auch anstrengten.

Eddy Merckx wurde der "Kannibale" genannt, weil er sich nicht nur auf die wichtigsten Wettkämpfe wie die Tour de France konzentrierte, sondern jedes Rennen gewinnen wollte. Sportlerikonen wie Merckx oder der Boxer Muhammad Ali personifizierten zu ihrer Zeit den von ihnen ausgeübten Sport. Jedes Kind kannte damals die beiden, auch wenn es nie ein Radrennen oder einen Boxkampf live oder im Fernsehen gesehen hatte. Platonisch gesprochen stellen solche Sportler die Idee ihres Sports dar, während die anderen Sportler nur wie Abbilder dieser Ideen wirken. Wer damals an Boxen oder Radrennen dachte, hatte sofort die Namen von Ali und Merckx im Kopf. Boxen, das war Ali, Radrennsport war identisch mit Merckx. Und es interessierte mich als Kind auch nicht, wie die beiden ihren Status erlangt hatten. Nach dem Ursprung von göttlichen Ideen fragt man nicht.

Die Bewunderung, ja Vergötterung solcher Stars ist ähnlich paradox wie mein erster Eindruck vom Radsport: Obwohl sie als sogenannte Leistungssportler berühmt geworden sind, bewundert man sie nicht wegen ihrer Leistungen, zumindest nicht dafür, dass sie für ihre Erfolge jahrelang mühevoll im Training geschuftet haben. Vielmehr bewundert man sie für ihren Genius, ihr vermeintlich übergroßes Talent, also für etwas, das nicht in ihrer Verantwortung liegt, sondern als göttlicher Funke auf sie übergesprungen ist. Aber genau das, was andere nicht können, verdankt sich bei ihnen eben nicht dem Talent und Glück, sondern (sofern sie nicht gedopt haben) Willen und langer harter Arbeit, die über das hinausgeht, was die meisten anderen Spitzensportler leisten.

Magie der Präsenz

Die Bewunderung von Sportler-Ikonen lässt sich mit der Bewunderung von als Genies gefeierten Künstlern wie Shakespeare, Mozart oder Picasso vergleichen, die auch Leuten bekannt sind, die noch nie ein Bild von Picasso gesehen oder eine Aufführung eines Stückes von Shakespeare erlebt haben. Der ästhetische Reiz, den Sportler wie Merckx und Ali ausüben, hängt somit gar nicht mehr unmittelbar an ihrer sportlichen Darbietung, sondern an ihrer Erscheinung und Präsenz, die auch dann ästhetisch wirkt, wenn der Sportler im Moment überhaupt nicht sportlich glänzt. So übte der gerade eher unsportlich an mir vorbeiradelnde Eddy Merckx gleichwohl eine große Faszination auf mich aus. Etwas sehr Schweres sehr leicht erscheinen zu lassen, verbindet die Ästhetik des Sports mit anderen ästhetischen Phänomenen, wie zum Beispiel den Darbietungen von Musikern oder Akrobaten im Zirkus.

Daneben muss es noch etwas Spezifisches in der Ästhetik des Sports geben, das den Sport von anderen ästhetischen Darbietungen unterscheidet. Entgegen dem Stanforder Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, der in seinem Buch "Lob des Sports" (2005) als das entscheidende - ästhetische -Moment auch des Wettkampfsports die "Arete", das Streben nach persönlicher Vervollkommnung, herausstellt, liegt meines Erachtens das spezifisch ästhetische Moment des Sports im "Agon", dem Wettstreit oder -kampf. In der Sportästhetik lässt sich gerade nicht wie Gumbrecht auf das berühmte "interesselose Wohlgefallen" Kants rekurrieren, das die ästhetische Erfahrung generell ausmachen soll. Denn im Wettkampfsport ist niemand interesselos, sondern jeder, Sportler wie Zuschauer, hat vor allem ein Interesse: zu gewinnen.

Der Sport ist eben keine moralische Besserungsanstalt, in der aus einer Niederlage noch ein moralischer Sieg gemacht wird, sondern eine ganz undialektische Angelegenheit, in der oben oben und unten unten ist und bleibt. Der Sportfan will nicht, dass die bessere Mannschaft gewinnt, sondern dass die eigene Mannschaft gewinnt, egal wie. Und wenn ihr dies gelingt, obwohl die gegnerische Mannschaft das ganze Spiel über spielerisch besser war, also das Ergebnis als ungerecht erscheinen mag, ist dies für den Fan erst recht gerecht. Und zu den größten ästhetischen Genüssen des Sportzuschauers gehört es, wenn ein wichtiger Sieg durch den Augenblick eines letztlich nicht intendierbaren Gelingens entschieden wird, wie es der Philosoph Martin Seel in seinen ethisch-ästhetischen Studien ausgedrückt hat. Solch ein Augenblick war das Siegestor für Deutschland von Mario Götze im Finale der Fußball-WM 2014, eine auch im akrobatischen Sinne äußerst schwierige Aktion, die mit einer ästhetischen Leichtigkeit präsentiert wurde.

Halsbrecherische Aktionen

Sogenannte Seriensieger haben Augenblicke nicht planbaren Gelingens allerdings nicht nötig. Gleichwohl entfalten ihre sportlichen Aktionen eine besondere ästhetische Dynamik. Schaut man sich etwa Abfahrtsläufe im Ski-Weltcup an, stellt man fest, dass so gut wie alle Läufer ihre speziellen Momente mit gut gelungenen Aktionen haben. Den Siegern ist allerdings eine Fähigkeit eigen, die anderen Sportlern abgeht: nicht nur momentane Augenblicke der Perfektion zu produzieren, sondern sowohl während eines einzelnen Wettkampfes als auch über viele Wettkämpfe hinweg konstant unter hohem Druck Augenblicke der Perfektion zu schaffen.

Der US-amerikanische Skisportler Bode Miller hat riesige Erfolge gefeiert, ist aber aufgrund seines unkonventionellen Fahrstils mit Rücklage und hohem Risiko oft auch ausgeschieden oder nach Zwischenbestzeiten noch um einige Plätze zurückgefallen. Wie Miller sich mit halsbrecherischen Aktionen aus brenzligen Situationen rettete, hatte seinen ästhetischen Reiz. Letztlich als der bessere Skifahrer hat sich aber sein Konkurrent Herman Maier erwiesen, der in seiner relativ kurzen Karriere wesentlich mehr Weltcupsiege errang. Maier hatte die mentale Stärke, voll konzentriert seine Linie vom Start bis zum Ziel durchzuziehen - auch dann, wenn sich die festgelegte Fahrlinie als falsch erwies und der "Herminator" bei seinem spektakulären Sturz 1998 bei der olympischen Abfahrt in Nagano 40 Meter seitwärts durch die Luft flog. Was für die Zuschauer wohl ebenfalls einen ästhetischen Genuss bedeutete.

Der Autor ist Philosoph, Autor und Verleger in Berlin

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