Vom Lob der Unvernunft

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„Young Directors Project“ bei den Salzburger Festspielen: Mit konventionellem Theater hat das Projekt „You Are Here“ des niederländischen Regisseurs Dries Verhoeven wenig zu tun. Zum eigentlichen Helden seiner Performance wird das Publikum selbst. Die prominent besetzte Jury zeigte sich begeistert: Sie wählten seine Arbeit zu der besten Produktion.

Wir sind eine große Solidargemeinschaft. Der niederländische Regisseur Dries Verhoeven will es so, und wir spielen alle mit. Mit konventionellem Theater hat sein Projekt „You Are Here“, im Rahmen des Young Directors Projects der Salzburger Festspiele aufgeführt, nichts zu tun. Zeitgemäß oder gar zukunftsweisend ist es dennoch nicht. Es handelt sich dabei mehr um eine Performance denn um die Realisierung eines Dramas. Das Team um Verhoeven reagiert jedes Mal neu auf das Publikum, das zum eigentlichen Helden wird.

Starkes Gruppenbewusstsein

Und das geht so: Wir stellen uns an der Rezeption eines Hotels an, geben dort unsere Schuhe ab und bekommen einen Zimmerschlüssel ausgehändigt. Gemeinsam warten wir, dass wir ins Innere des Hotels vordringen dürfen. Das stärkt unser Gruppenbewusstsein. Dann suchen wir unser Zimmer auf, spärlich ist es ausgestattet, eine Pritsche muss reichen und eine Steckdose. Schade, den Rasierapparat habe ich vergessen, jetzt hätte ich Zeit, ihn zu benutzen. Also legen wir uns hin und warten. An der Decke befindet sich ein Spiegel, wir sehen uns, wie wir warten, jeder für sich ganz allein. Dann wird ein Zettel unter der Tür durchgeschoben, jetzt haben wir Fragen zu beantworten von semi-privater Brisanz: Was haben Sie letzte Nacht geträumt? Was machen Sie, wenn Sie nicht schlafen können? Mit wem haben Sie zuletzt telefoniert? Also gut, wir beantworten die Fragen nach bestem Wissen, Gewissen und unserer Fähigkeit zum Erinnern. Das dauert – und flugs ist eine halbe Stunde verschwunden. Dann hebt sich die Spiegeldecke, der Raum weitet sich und wir sehen all die anderen, wie sie liegen und warten. Das verbindet uns schon wieder miteinander. Eine Stimme meldet sich. In der Zwischenzeit wurden unsere Zettel offenbar ausgewertet, denn in einem poetisch angehauchten und Wichtigkeit suggerierenden Text tauchen Fragmente aus unseren Antworten wild vermischt auf. Das bindet uns nur noch stärker aneinander. Alle unsere Antworten sind Teil eines großen gemeinsamen Ganzen. Als auch noch eine Gestalt ins Zimmer huscht, um uns zuzudecken, nachdem wir mit einem Bissen Nahrung umsorgt worden sind, ist klar: Wir stecken alle unter einer Decke.

Das ist alles so rührend, so liebevoll, so voll der guten Absichten gemacht, dass man sich in den guten alten Sechzigern wiederzufinden meint, als man auch eine Zeitlang dachte, es würde alles gut werden, wenn wir nur gut zueinander seien. Kein Kapitalismus, kein Krieg, kein böser Nachbar kann uns etwas anhaben, wenn wir nur sanftmütig miteinander umgehen. Das ist braver Gefühlssozialismus in den Zeiten radikaler Unvernunft. Keineswegs sind wir von des Gedankens Blässe angekränkelt – wie denn auch, es findet sich weit und breit ja keiner. Der Jury, der so prominente Persönlichkeiten wie Sunny Melles und Peter Simonischek angehörten, leuchtete das Konzept jedenfalls ein. Sie zeichneten Dries Verhoevens Arbeit als die beste von den vier Produktionen, die zur Wahl standen, mit dem Young Directors Award aus.

Dabei hat sich Jette Steckel mit der Bearbeitung des Romans „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ von Ilija Trojanow wahrhaft einiges einfallen lassen. Sie erzählt die Geschichte der Flucht des jungen Alex mit seinen Eltern aus dem sozialistischen Bulgarien in den Wohlstandswesten. Sie findet starke Bilder für die existenzielle Grenzsituation.

Kampfplatz der Möglichkeiten

Alexander droht zu verkümmern, bis sich Bai Dan seiner annimmt, ein alter Mann, der ihm die Welt der Fantasie als die gigantische Gegenwirklichkeit aufschließt. So entwickelt sich das Stück, das die bulgarische Ödnis gar plakativ in Szene setzt, zu einem tollkühnen Abenteuer mit offenem Ausgang. Der Westen ist nicht gut, er ist nicht böse, er wird in der Interpretation von Jette Steckel zu einem Kampfplatz der Möglichkeiten. Aus einem Ort der zahlreichen Konjunktive muss sich das Individuum erst einen festen Standplatz des Indikativs schaffen. Mit Bruno Cathomas als Bai Dan und Jörg Pohl als Alex standen Jette Steckel zwei großartige Darsteller zur Verfügung, die all die widersprüchlichen Bewegungen zwischen Euphorie und Depression, die in einem Menschenkörper sich in die Quere kommen, sichtbar machen.

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