Vom Mysterium zum Showgeschäft

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Sigmund Freuds Deutung der Träume als Spiegel des Unbewußten hat in Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen.

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Sigmund Freuds Deutung der Träume als Spiegel des Unbewußten hat in Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen.

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Sigmund Freuds "Traumdeutung" ist eines der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts. Die auf das Jahr 1900 datierte, aber schon im Jahr davor erschienene Veröffentlichung begründete nicht nur die moderne Psychologie, sondern durchdrang die gesamte Kultur des vergangenen Jahrhunderts. "Zwei zentrale Themen der Kunst des 20. Jahrhunderts - das Unbewußte und Kunst über Kunst, das heißt: Kunst, die Kunst reflektiert - sind nicht denkbar ohne die Psychoanalyse und ihre grundlegende Ikone, den Traum", formuliert Lynn Gamwell. Die Direktorin des Binghampton University Art Museums in New York ist Kuratorin der Ausstellung "Träume 1900 - 2000. Kunst, Wissenschaft und das Unbewußte", die derzeit im Historischen Museum der Stadt Wien zu sehen ist. Die Schau vermittelt einen Eindruck, welchen Niederschlag Freuds Entdeckung des Unbewußten und seine Deutung der Träume als "die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben" in der Kunst gefunden hat: Für viele Maler, Tänzer, Filmemacher und Schriftsteller wurde die Beschäftigung mit dem Traum zum Königsweg der Selbstwahrnehmung und -reflexion.

Aus dem Bestreben, die Bewegungen des Tänzers zum Ausdruck tiefster Gefühlsregungen zu machen, entstand Modern Dance - expressive Gesten und natürliche Bewegungen ohne einschnürendes Kostüm, mitunter auch mit nacktem Körper. Mit Choreografien wie "Traumgestalt" (1927) wurde Mary Wigman zur Grande Dame des Ausdruckstanzes.

In der gegenständlichen Malerei des 20. Jahrhunderts verschob sich das Interesse von der Darstellung des Äußeren hin zur Erfassung des inneren Wesens mit verborgenen Bedeutungsebenen. Für die surrealistischen Maler wurden traumhafte Impressionen zu einem der wichtigsten Motive. Die phantastischen, von bizarren Tier- und Menschengestalten bevölkerten Bildwelten von Salvador Dali etwa können zu einem großen Teil als erinnerte Träume betrachtet werden, in denen der katalanische Exzentriker seine Neurosen aufarbeitete.

Als das ideale Medium zur Darstellung von Träumen erwies sich der Film. Über 200 vor dem Ersten Weltkrieg allein in Frankreich und den USA entstandene Stummfilme handeln von Träumen. Später reichte das Spektrum von Avantgardeklassikern wie Luis Bunuels und Dalis "Un Chien Andalou" (1928) bis zu Hollywoodfilmen wie "Spellbound") ("Ich kämpfe um Dich", 1945), wo abermals Dali den Entwurf für die berühmte Traumsequenz beisteuerte oder "Vertigo" (1958), beide von Alfred Hitchcock. Auch Ingmar Bergman schickte in "Wilde Erdbeeren" (1957) einen alten, vereinsamten Professor auf eine Reise, während derer er sich durch eine Reihe von Träumen seiner Vergangenheit bewußt wird.

In der Literatur war es der Dichter Andre Breton, der in seinen theoretischen Schriften Träume und das Unbewußte zu wesentlichen Quellen erklärte. Im ersten "Surrealistischen Manifest" (1924) postulierte er, im dichterischen Akt solle der Bewußtseinsstrom ohne Steuerung durch die Vernunft und unter Ausschaltung ästhetischer und moralischer Kontrollinstanzen zum Ausdruck kommen - die "beiden scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit" sollten so aufgehoben werden.

Freud konnte mit der Anwendung seiner psychologischen Erkenntnisse auf die Kunst und im speziellen mit dem Surrealismus wenig anfangen. 1921 war Breton in Freuds Praxis aufgetaucht und schwärmte von einer Partnerschaft von Kunst und Psychiatrie. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß er keine einzige Schrift Freuds kannte, wies ihm der Psychoanalytiker höflich aber bestimmt die Tür.

Ein Jahr vor Freuds Tod versuchte Breton abermals, den 80jährigen Professor für ein Projekt zu gewinnen. "Ich bedaure lebhaft, daß es mir nicht möglich ist, Ihren Wunsch nach einem Originalbeitrag zu ihrer Traumsammlung zu erfüllen. Ich bitte Sie zur Kenntnis zu nehmen, daß der Wortlaut der Träume, das, was ich den ,manifesten' Traum heiße, kein Interesse für mich hat. Ich habe mich damit beschäftigt, den ,latenten' Trauminhalt zu finden, den man durch analytische Deutung aus dem manifesten Traum gewinnen kann", wehrte Freud des Dichters Anliegen ab.

Das Ausleuchten des Traumes und des Unbewußten eröffnete der Kunst neue Dimensionen. Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten: Weil ästhetische Erwägungen nicht mehr im Vordergrund standen, wurde ein vor allem am "Schönen" interessiertes bürgerliches Kunstpublikum vor den Kopf gestoßen. Außerdem wurden Visionen und letztlich die Kunst selbst ihres Mysteriums beraubt und profanisiert. "Nach Freud war der Traum nicht länger eine heilige Vision, sondern eine Aussage über ein privates Problem. Der Künstler war nicht länger ein Visionär, sondern nur ein weiteres gestörtes Individuum", bedauert der amerikanische Kunsthistoriker und Philosoph Donald Kuspit: "Aus den geheimen Nischen des Geistes vertrieben, geriet das Mysterium zum Showgeschäft."

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