Vom Nutzen der alten Werte in den neuen Medien

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Die Außerkraftsetzung der nationalstaatlichen Souveränität im Internet erfordert eine neue Tugendmoral. Aus der Digitalisierung von Information und der Vernetzung von Speichern und Gesellschaften ergeben sich ungekannte Möglichkeiten und Probleme. Der Philosoph Matthias Rath plädiert für eine stärkere Individualethik.

Es herrscht helle Aufregung um die Veröffentlichung geheimer US-Dossiers durch die Onlineplattform WikiLeaks. Heiß diskutiert wird die Frage, ob WikiLeaks Aufklärung gebracht oder nur gefährlichen Geheimnisverrat begangen hat. Fest steht, die WikiLeaks-Enthüllungen sind schon rein quantitativ in bislang ungekannte neue Dimensionen vorgedrungen. Ebenso erstaunlich ist, dass die US Regierung weder den Diebstahl ihrer Daten noch deren Veröffentlichung in Internet verhindern konnte.

Möglich wurde all dies erst durch die Digitalisierung von Information und Vernetzung der Speicher. In gedruckter Form hätte schon die Masse von knapp vier Tonnen Papier den Datenklau vereitelt. Der "Digital Turn", welcher unsere Zeit offensichtlich prägt, schafft neue Möglichkeiten, und unsere Gesellschaften müssen sich fragen, ob ihre ethische und moralische Entwicklung mit der technischen Evolution mithalten kann (lesen Sie dazu bitte auch Seite 13).

Der Medienphilosoph Matthias Rath beschreibt dieses Problem mit den Fragen: "Wollen wir alles, was wir können?" Und "Sind wir bereit, die Folgen unseres Könnens zu tragen?" In Wien hielt er zu diesem Thema am 13. Dezember die letzte öffentliche Vorlesung der "Hedy Lamarr Lectures" 2010 von Medienhaus, Telekom und Akademie der Wissenschaften.

Digitalisierung als Epochenbezeichnung

Die Digitalisierung und Vernetzung zu einem "partizipativen Netz" sind die grundlegenden Charakteristika unserer Zeit. Weder der Begriff "Wissensgesellschaft" noch "Mediengesellschaft" eignen sich als Epochenmarker, denn: "Ohne Wissen keine Gesellschaft". Das konstatiert Matthias Rath für jede Epoche der Menschheitsgeschichte.

Dieses Wissen war auch schon immer medial vermittelt, sei es durch Zeichen, Sprache, Schrift oder Bild. Was diese Epoche womöglich eher auszeichnet, ist unser Bewusstsein über die Begrenztheit unseres Wissens und über unsere Medialität. "Was wir wissen, wissen mir medial", betont Rath, im Sinne des Soziologen Niklas Luhmann, und weiter: "Alles Wissen über unsere Welt ist eine subjektive Konstruktion."

Unterscheidungen zwischen objektivem Wissen und subjektiver Wahrnehmung scheinen daher wenig sinnvoll. Wir haben diese Medialität erkannt, wir haben sie schätzen und wir haben sie fürchten gelernt, sagt Rath. Medien erscheinen zwar analog, müssen dafür aber aus dem digitalen Binärcode erst wieder zurückübersetzt werden, in Schrift, Bild oder Sprache. Die Digitalität enthält potenziell all unser Wissen im Binärcode.

Die Digitalisierung helfe so dem altgriechischen Begriff apeiron des Vorsokratikers Anaximander wieder zu Aktualität. Für Anaximander war apeiron das weltbildnotwendige Konstrukt einer Grundsubstanz, aus der alles Einzelne entsteht. Kein Wort, das für etwas Einzelnes gebraucht wird, lässt sich als Bezeichnung auf die Vielfalt der Dinge anwenden, so Anaximander. Daher der Hilfsbegriff apeiron. Die Codierung analoger Inhalte in digitale Informationen macht im binären Code der Nullen und Einser nun erstmals jede Information gleich. Die ganze Welt wird in der Digitalisierung vereinheitlicht. Sie erfüllt scheinbar alle Eigenschaften des apeiron.

Der "Digital Turn" ist grundlegend

Welche praktischen Konsequenzen hat diese Digitalisierung für die alltägliche Kommunikation?

Auch hier kann die aktuelle WikiLeaks-Diskussion als Beispiel dienen. Die veröffentlichten US-Dossiers waren nicht für die Öffentlichkeit gedacht, doch digitale Dokumente sind immer potenziell öffentlich, setzt Matthias Rath dem entgegen. Früher war Kommunikation grundsätzlich privat und musste erst aktiv veröffentlicht werden. Digitalisierte Informationen hingegen sind grundsätzlich potenziell öffentlicher Natur und müssen aktiv geheim gehalten werden.

Zudem verschwimmen im Web die Dimensionen des Produzenten und des Konsumenten, bzw. Rezipienten von Informationen und journalistischen Inhalten. Man kann dabei durchaus vom hehren Ideal der Partizipation sprechen. Heraus kommt am Ende der Neologismus des Produsers. Des Producers und des Users in einer Person. Im Digitalen Netz gibt es keine zentral gesteuerte öffentliche Wahrnehmung mehr, sondern eine zahllose Vielfalt der Meinungen. Nicht mehr Journalisten formen die möglichen öffentlichen Meinungen, sondern die Vielzahl der Produser. Im öffentlich-partizipativen Netz ist Öffentlichkeit nicht mehr gleichzusetzen mit Aufmerksamkeit. Öffentlichkeit hat im Internet theoretisch jeder. Bereits durch das Onlinestellen von Informationen sind diese auch theoretisch milliardenfach verbreitet. Nun braucht es jedoch Plattformen wie WikiLeaks, um Aufmerksamkeit zu binden. "Was im partizipativen Netz auf mich wartet, muss ich erst an meinen digitalen Strand ziehen", so Matthias Rath. Öffentlichkeit wird nicht mehr vorselektiert. Im Digitalen Netz wird so jede Öffentlichkeit zum Konkurrenten einer anderen.

Die digitale Rehabilitation der Tugendmoral

Mit den Fragen "Wollen wir alles, was wir können?" und "Sind wir bereit, die Folgen unseres Könnens zu tragen?" spielt Rath auf den wunden Punkt des digitalen partizipativen Netzes an: Wer übernimmt die Verantwortung für die steigenden Möglichkeiten der Kommunikation im Netz?

Auf dieses Problem kann es nach Rath nur normative Antworten geben. Die Bereitschaft des Einzelnen ist das einzige Maß der Digitalisierung. Auf internationale gesetzliche Regeln zu hoffen, scheint für ihn vor dem Hintergrund der nachhaltig fruchtlosen Bemühungen um ein internationales Klimaschutzabkommen naiv. "Das Digitale Netz ist die strukturelle Außerkraftsetzung der nationalstattlichen Souveränität", so Rath. Das wird dann zum Problem, wenn die Strukturen unserer Gesellschaft durch Aktionen wie die Hackerangriffe auf Mastercard oder Amazon zu stark Schaden nehmen. Dadurch könnte der Leviathan im Staat erwachen, und das wiederum sollte nicht im Interesse der Bürger liegen. Mastercard und Visa berufen sich zwar scheinbar naiv auf Gesetze und Geschäftsbedingungen, wenn sie WikiLeaks den Geldhahn abdrehen, aber sie sind offenbar auch die Letzten, die noch an Verfahrensgerechtigkeit glauben. Während die Angreifer allein ihre Funktion als WikiLeaks-Sympathisanten zur Intervention legitimiert.

Wenn der einzelne Nutzer Knotenpunkt des partizipativen Netzes ist, dann kann nur die Individualethik eine Antwort auf die Digitalisierung sein. Rath spricht von der digitalen Rehabilitation der Tugendmoral. So wie die Antwort auf Aids das Gebot des Safer Sex war, sind die Antworten auf die Digitalisierung die Werte wie Datenschutz und Quellentreue.

Nicht WikiLeaks hat letztendlich Verrat begangen oder Aufklärung gebracht. Sondern ein einzelner Produser. Der 23-jährige US-Army-Obergefreite Bradley Manning. Ihm drohen bei Verurteilung bis zu 52 Jahre Haft. Dabei war er nur einer von 2,5 Millionen Staatsangestellten, die zu jenem Netzwerk Zugriff hatten, auf welchem sich die Daten befanden. Er war bereit, den rechtsfreien Raum zu nutzen.

Die Frage ist, ob man ihm für seine Tat die volle Verantwortung aufbürden kann, denn: Verantwortung muss immer in Abhängigkeit zur Zumutbarkeit stehen. Die Bürger müssen in die Lage gebracht werden, die Folgen eigener Handlungen abschätzen zu können. Das verlangt aber nach bildungspolitischen Taten. Erst dann kann man von Kompetenz sprechen.

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