Vom Sinn zum Über-Sinn

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Viktor Frankl und die Religion.

Sie habe Frankl stets als eine "Mischung von Prophet, Guru und Prediger im Gewand eines Psychiaters empfunden", schrieb die amerikanische Psychiaterin Edith WeisskopfJoelson vor 30 Jahren. Sie verstand sich als Anwältin von Frankls Ideen, wenn sie dessen Logotherapie als "eine säkulare Religion" darstellte. Die starke Präsenz der religiösen Dimension menschlicher Existenz in den Schriften des Wiener Seelenarztes mag sie zu dieser Charakterisierung verleitet haben. Nicht von ungefähr trägt dessen Hauptwerk von 1946 den Titel "Ärztliche Seelsorge". Und Viktor Frankls Selbstdarstellung als ein in der Kunst der gleichnishaften Rede begnadeter Vortragender sowie der gewinnende Sprachgestus in seinen Büchern haben etwas Überwältigendes an sich: Hier spricht eine Persönlichkeit aus der Gewissheit unerschütterbarer Überzeugung, die jedes Wort durch den Bezug zu ihrem Schicksals verbürgt.

Wertblinde Psychotherapie

Frankls herausragendes Verdienst besteht zweifellos in der Begründung einer ganzheitlichen medizinischen Sicht des Menschens. Klarsichtig erkannte er, dass jeder Therapieform ein bestimmtes Menschenbild zu Grunde liegt, und zwar unabhängig davon, ob dies eigens thematisiert wird. Ja, er überführte die behauptete weltanschauliche Neutralität der wissenschaftstheoretischen Falschmünzerei: Hinter dem Anspruch, sich aller Wertungen zu enthalten, steht selbst wiederum ein Werturteil. "Eine Psychotherapie, die sich für wertfrei hält, ist in Wirklichkeit bloß wertblind." Die Logotherapie lässt diese Stelle nicht unbesetzt; vielmehr nimmt die Ausformulierung des anthropologischen Konzepts breiten Raum ein. In der so genannten "Existenzanalyse" erhält die geistigexistenzielle Verfasstheit des Menschseins Gewicht. Das Denkmodell, mit dem Frankl das Verhältnis von Leib, Seele und Geist zueinander veranschaulicht, entlehnt er der Vorstellungswelt der Geometrie und tauft es "Dimensional-Ontologie". So wie die Linie Voraussetzung der Fläche und diese wiederum Bedingung der Dreidimensionalität ist, so verhält es sich auch mit den drei Dimensionen des Menschseins. Wobei die jeweils höhere Dimension die ihr entsprechende Einheit konstituiert: der Leib die organische, die Seele die Leib-Seele-Einheit und der Geist die Person. Frankl definiert das wesentlich Menschliche als "Einheit trotz Mannigfaltigkeit"; die "Signatur der menschlichen Existenz" zeige sich gerade in der "Koexistenz zwischen der anthropologischen Einheit und [...] den unterschiedlichen Seinsarten, an denen sie teilhat".

Den Bereich des Geistigen schenkt Frankl größte Aufmerksamkeit und sieht sich als seinen Anwalt. Das ganze System der Logotherapie zielt einzig auf die Rettung der geistigen Dimension, die Frankl vor allem durch die Psychoanalyse Freuds bedroht sieht. Pointiert stellt er dem Anschein der Übermächtigkeit des unbewusst Triebhaften die "Trotzmacht des Geistes" entgegen. Zu den anthropologischen Grundlagen der Psychotherapie zählt an exponierter Stelle die "Fähigkeit des Menschen, sich von Psychophysicum zu distanzieren". Die Stellungnahme der geistigen Person markiert jene scharfe Grenze, die eine therapeutische Intervention erst ermöglicht.

Der Fähigkeit zur Selbst-Distanz korrespondieren die Fähigkeit des Sich-selbst-Übersteigens ("Selbst-Transzendez") sowie die Ausrichtung auf Sinn und Werte. Frankls Trommelfeuer für die Sinnfrage, sein Plädoyer für Sinnerfüllung im Ergreifen der im Außen gelegenen Möglichkeiten als Antwort auf die Anfragen der Welt sowie die Betonung der Selbstvergessenheit in der Hingabe an eine Aufgabe, Sache oder Person imponieren als Stärke und benennen zugleich indirekt den blinden Fleck der Logotherapie. Die aufdringliche Geist-Akzentuierung bringt jedes Bei-sich-selbst-Sein in Misskredit. Frankls strikte Weigerung, die emotionale Ebene einzubeziehen, trägt seine persönlichen Verschattungen in die Theoriebildung hinein und verfehlt damit letztlich die Sache, um die es ihm geht. Eine treffende Antwort auf die Sinnfrage kann nämlich nur dort auf fruchtbaren Boden fallen, wo die Person ausreichend Halt erfährt, ihr Mögen gefasst hat und sich in ihrem So-Sein zu zeigen getraut. Solange die innere Wunde der Selbst- und Selbstwertverletzungen schwärt, tut Heilung zunächst an dieser Stelle Not, bevor es um ein von Sinn erfülltes Leben gehen kann.

Überzogener Gehorsam

In der Fluchtlinie der Sinnfrage steht auch Frankls Religionsverständnis: Der Weg der Sinnfindung führt über die Beziehung zu einer Person oder Sache zur Verwirklichung eines absoluten Wertes ("Übersinn") bis hin zur personalen Gottesbeziehung. Im Hinblick auf den religiös-spirituellen Aspekt der Geist-Person wiederholt die Frankl'sche Höhenpsychologie das bereits angedeutete Denken in "Über-Ich"-Strukturen. Hedwig Raskob hat Frankls autoritäres Gottesbild präzise nachgezeichnet, das Liebe auf der Seite der Abhängigen in die Gestalt der Aufopferung und Unterwerfung kleidet, überzogene Gehorsamsansprüche stellt und die noch unreife Geborgenheit des kleinen Kindes in der Vaterbeziehung vermittelt.

Überlegener Zwerg?

Im Selbstbild des Zwerges, der auf den Schultern von Riesen steht, zeichnete Frankl sein Verhältnis zu Sigmund Freud und Alfred Adler. Dabei verknüpft der Begründer der "Dritten Wiener Schule" die Überlegenheit seines Weitblicks geschickt mit einer humorvollen Demutsgeste gegenüber Psychoanalyse und Individualpsychologie. Erst in der "Höhe" der Existenzanalyse kommt das Geistige, kommen Sinn und Ziel angemessen ins Blickfeld. Doch wenn auch vom Ausguck eines Segelschiffes aus die Richtung der Fahrt bestimmt werden kann, bedarf es nautischer Kenntnisse, um den Kurs zu halten. Ebenso wenig vermag der Zwerg das erspähte Ziel zu erreichen, ohne die Innen- und Tiefenwelt angemessen zu beachten, auf die er gestellt ist. Wer dauerhaft über seine Emotionalität und die Erfahrungen mit sich hinwegsieht, wird schließlich an der Klippe der verantworteten Selbstfindung Schiffbruch erleiden. Und das gilt in Sonderheit für den religiösen Anteil.

BUCHTIPP:

Die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls.

Systematisch und kritisch. Von Hedwig Raskob. Wien: Springer Verlag 2005. 443 Seiten, geb., e 45,20.

Der Autor arbeitet am Institut für Philosophie der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Graz und ist existenzanalytischer Berater und Logotherapeut unter Supervision.

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