Vom Sitzenbleiben und vom Sesselkleben

Werbung
Werbung
Werbung

Im Jahr 1990 bedauerte der schon sehr alte Ernst Jünger in seinem Tagebuch das allmähliche Verschwinden ihm seltsam erscheinender Wörter. Seltsam wohl deshalb, weil Herkunft und Zusammenhang in Vergessenheit geraten seien. Eines davon ist das Wort Voyeuse. Keine Sorge, auch Minderjährige dürfen nun unbehelligt weiterlesen, denn die Voyeuse ist ein Möbelstück - ein Stuhl mit einer verkehrten Lehne und zwei bequemen Armstützen, auf dem der Kiebitz im Kaffeehaus beim Kartenspiel saß, höchstens halblaut Anmerkungen murmelnd, und den Spielern eben dabei zusah - als ein Voyeur reinsten Wassers, das nur kurz getrübt wurde, wenn er doch eine zu laute Bemerkung machte und ihm ein "Kiebitz, halt’s …“ zugeschickt wurde. Der Kiebitz ist aus dem normalen Innenstadt-Kaffeehaus verschwunden, denn die Grundlage, die Kartenpartie, gibt es kaum mehr, am ehesten noch in der Vorstadt.

Aufrechten Ganges

Es wäre doch ein eigenartig schöner Zustand, gäbe es für jeden alltäglichen Vorgang das passende Sitzmöbel. Dann käme der Fauteuil wieder in seine Rechte, aus denen er vom Fernsehsessel vertrieben wurde. Dann würde wieder zwischen Stuhl und Sessel unterschieden, zwischen Schemel und Hocker. Dann stünde der Diwan neben der Couch, dazwischen das Sofa, daneben der Schaukelstuhl und der Kanadier - und vielleicht sogar, Gipfel aller Sitzgenüsse - die Récamière, dieser geschwungene Zweisitzer, nebeneinander und doch einander gegenüber.

Wo will das hin? Von all der Vielfalt ist ein Begriff übrig geblieben, der des Sesselklebers, womit einer gemeint ist, dem jedes Sitzmöbel recht ist, solange er es nicht räumen muss. Und nun geht einer hin, sagt seine Meinung und gibt seinen Sessel her. Und wird dafür beschimpft, dass er eine Haltung hat. Und zu ihr steht, statt sitzen zu bleiben. Die Kiebitze machen es sich auf ihren Hinter- und Vorderbänken bequem und tun alles dafür, dass sie ihnen nicht weggezogen werden. Doch sollte dabei eines nicht übersehen werden: Es gibt einen Spezialsessel, der im einzig wahren James-Bond-Auto zur Unsterblichkeit gelangt ist: der Schleudersitz. Und pffft …

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung