Vom Suchen, als gäbe es etwas zu finden

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Natascha Wodins Roman über eine 63-jährige Berufsjugendliche, die sich allein an der Schwelle zum Alter wiederfindet, "als wäre sie aus dem Fiasko ihrer Jugend nahtlos ins Fiasko ihres Alters gestürzt".

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Natascha Wodins Roman über eine 63-jährige Berufsjugendliche, die sich allein an der Schwelle zum Alter wiederfindet, "als wäre sie aus dem Fiasko ihrer Jugend nahtlos ins Fiasko ihres Alters gestürzt".

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Natascha Wodin, geboren 1945, weiß, wovon sie in ihrem Roman "Alter, fremdes Land" spricht. "Sie beschönigt nichts, sie schont sich nicht, und doch ist sie nie ehrlich, ohne vor allem diskret zu sein", heißt es im Klappentext. Doch man sollte der Autorin nicht unterstellen, dass sie hier über sich selbst schreibt. Vielmehr geht es um eine Generationserfahrung, zumindest im Segment der oberen Mittelschicht.

Aktuell übersiedelt die erste Generation ins Altersheim, die ohne einengende, aber auch helfende Rollenbilder für die unterschiedlichen Lebensphasen zurecht kommen musste. Diese Generation ist einst aufgebrochen mit höchsten Erwartungen: berufliche wie menschliche Selbstverwirklichung, ideale Partnerschaft, familiäre Geborgenheit und stets hochaufregender Sex. Die Erkenntnis, dass nie alles jederzeit und gleichzeitig zu haben ist, begleitete einst den Prozess des Erwachsenwerdens, den diese Generation mit fortwährenden Suchbewegungen vertauschte. Auch die überkommenen Rituale wischte man weg und musste dann doch mühsam und oft ein wenig hilflos Ersatz schaffen, und sei es nach dem Ende einer Lebensabschnittsbeziehung die Akquisition eines "Einpersonenbettes" als "Symbol der endlich wiedererlangten Identität als Einzelwesen".

Idealtypische Berufsjugendliche

Sie hatte "sich in ihrem Leben nie entschieden. Sie hatte sich immer beides genommen, die Sicherheit und die Freiheit", heißt es über Natascha Wodins Spielfigur Lea. Sie ist 63, lebt in einem weitgehend gentrifizierten Berliner Kiez, die Erfolge als Schriftstellerin waren nicht berauschend und nach einer Reihe gescheiterter Beziehungen findet sie sich eines Tages als idealtypische Berufsjugendliche -ein Konzept, das sich harmonisch in die Marketinginteressen der Kosmetikindustrie wie die politischen Programme zur Erhöhung des Pensionsalters schmiegt -ziemlich allein an der Schwelle zum Alter wieder, "als wäre sie aus dem Fiasko ihrer Jugend nahtlos ins Fiasko ihres Alters gestürzt".

Fiktionale Identitäten

In diesem Auftakt ist der Roman tatsächlich schonungslos, auch in der Beschreibung der unschönen körperlichen Begleiterscheinungen des Alterungsprozesses, die im breiten Mittelteil des Romans verschwunden scheinen. Da für Lea das aktuelle "Fiasko" vor allem im Verlust ihrer erotischen Attraktivität besteht, findet sie ein Remedium im erotischen Chatroom.

Zunächst genügt ihr die Ebene der Verbalerotik mit einem Ulrich als Mann ohne Körper. Dann lässt sie sich auf Real Dates ein. Manche davon enden ein wenig grotesk, überraschend viele aber durchaus befriedigend. Sogar eine längere Affäre mit einem 23-jährigen Märchenprinzen fällt Lea in ihren nicht mehr von Altersproblemen geplagten Schoß. Bezeichnend für die Atmosphäre des Chatrooms ist der Beginn dieser Romanze. Dass er ihren Nickname Norma mit Bellini verbindet, entlockt Lea ein "Donnerwetter", denn das markiert ihn hier als Ausnahmefigur. Wenn Lea den Chatroom als "einen durch und durch literarischen Ort" definiert, so bezieht sich das nicht auf das intellektuelle Niveau, sondern nur auf die Fiktionalität der Identitäten, die hier zugange sind. Freilich hätte sich Norma auch rasch ergoogeln lassen, in diesem Fall aber entpuppt sich der junge Mann tatsächlich als Pianist mit einer "typischen Musikernase", wie immer die genau aussieht.

Dass ihr zunächst ängstlich verschwiegenes Alter die männlichen Avatare dann in Scharen anlockt, versucht sich Lea mit verschiedenen Theorien zu erklären. Die naheliegendsten findet sie nicht: kein Verhütungsproblem, kein legitimer Beziehungsanspruch plus Kompensationsmöglichkeit für Defizite aus missglückten Mutter-Sohn-Beziehungen.

Irgendwann hat Lea genug vom Reigen der One-Night-Stands, und in dem Moment werden auch die physischen Probleme wieder ein Thema, samt einer veritablen Altersdepression. In den Nächten plagen sie Albträume "vom Suchen, immer wieder vom Suchen, als gäbe es wirklich etwas zu finden".

Nicht über die Luxuszone hinaus

Mit diesen Worten endet das Buch und das klingt tatsächlich traurig. Den ganzen Roman über möchte man Lea zurufen, sie solle sich doch für irgendetwas engagieren, vielleicht nicht nur zu Fitnesszwecken walken, sondern einmal ein wirkliches "fremdes Land" aufsuchen, zum Beispiel ein Unterschichtviertel. Da ist viel zu erfahren, etwa dass immer noch einer "der wichtigsten Faktoren für die Berechnung der Lebenserwartung die Postleitzahl" ist, wie es in einer Studie über den "Mythos Vorsorge" heißt. Aber Lea riskiert den Blick über die Luxuszone mit ihren Luxusproblemen nicht, der dem Roman vielleicht genauso gut getan hätte wie ein wenig mehr sprachliche Sorgfalt.

Da wird "mit hölzernen Fingern" ein Wasserhahn aufgedreht, Kellner "balancieren" Tabletts, aufs Sofa lässt man sich "gleiten", nachts war Lea "durch die Straßen getrieben", im Chat mit ihrem Ulrich, der ein "lupenreines Hochdeutsch" schreibt, "drang sie in die feinsten Verästelungen seiner Worte ein", denn das Geheimnis seiner Identität beschäftigt sie "aufsässig", so wie sie überhaupt die "ganz gewöhnlichen durchschnittlichen Männer" faszinieren, Männer, "die zum ganz normalen, allgegenwärtigen Lebensuniversum gehörten" - das man sich freilich etwas reichhaltiger und bunter vorstellen sollte als Lea vermutet.

Alter, fremdes Land Roman von Natascha Wodin Jung und Jung 2014 216 S., geb., € 19,90

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