Vom Töten zum TöTen

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Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs beginnt Ende 1918, als eine demoralisierte und traumatisierte Generation von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zurückkehrte. Wie die Urkatastrophe 25 Jahre später die Katastrophe auslöste. Eine Geschichte in Wegskizzen.

Die Türe fällt krachend ins Schloss. Felizitas sieht von ihrer Schiefertafel auf. Sie sitzt beim Küchentisch und schreibt. Schwere Schritte hallen über den Gang. Ob der Vater schon nach Hause gekommen ist? Es muss noch früh am Nachmittag sein, das Mittagessen ist noch nicht lange vorbei. Schon steht der Vater im Raum. Der große Mann wirkt kleiner, gebeugter als sonst. "Es ist vorbei. Der Krieg ist verloren!" Für einen kurzen Moment herrscht völlige Stille in der Küche. "Alle Opfer waren umsonst", sagt der Vater mit tonloser Stimme und Felizitas sieht den Schmerz in seinen Augen.

Felizitas Wester, Jahrgang 1912, Kärnten

"Ich bin im Herbst 1918 in die Schule gekommen, da war noch Krieg. Anfang November, das weiß ich noch, ist der Vater nachhause gekommen und hat erzählt, jetzt ist der Krieg aus", erinnert sich Felizitas Wester.

"Heil Deutschösterreich!", hallt es am 21. Oktober 1918 durch den Sitzungssaal der Niederösterreichischen Landesregierung in der Wiener Herrengasse. Die Reichsratsabgeordneten aller deutschsprachigen Wahlbezirke sind zur Konstituierung einer Provisorischen Nationalversammlung zusammengekommen. Einstimmig wird die Gründung Deutschösterreichs beschlossen, dessen Grenzen noch nicht feststehen. Die "Neue Freie Presse" berichtet am 22. Oktober: "Der Tag ist ruhig vergangen. Die Versammlung der 210 Abgeordneten war ohne Fahnenschwenken und Böllerschüsse würdig, wenn auch nicht ganz mit jener Hochstimmung, die so bedeutsame Veränderungen sonst begleitet. [] Der Traum des alten Österreich ist ausgeträumt."

Schmerzt es die "Deutsch-Österreicher", was sie in jenen Tagen in der Zeitung lesen? Erfüllt es sie mit Trauer, dass ihre Söhne, Väter und Brüder vier Jahre lang für einen Staat gefallen sind, den nun niemand mehr bevölkern will? Glaubt man einem Bericht der Wiener Polizeidirektion vom 18. Oktober 1918, sind die meisten Menschen zu zermürbt von Krieg und Elend, um sich große Gefühlsaufwallungen leisten zu können. "[ ] dass die untersten Schichten nur den Ernährungsverhältnissen Interesse entgegenbringen, politischen Vorgängen gegenüber jedoch ziemlich abgestumpft sind."

Die Waffen schweigen, doch noch herrscht kein Frieden. Staatskanzler Renner und seine Delegation werden in St. Germain mit den Forderungen der Sieger konfrontiert: riesige Gebietsverluste und unbezahlbare Reparationszahlungen. Im österreichischen Parlament spricht man von "Todesurteil" und "wahnsinnigem Vernichtungswillen", doch die Besiegten haben keine Wahl. Österreich steht mit dem Rücken zur Wand. Hunger, Not, Arbeitslosigkeit und Inflation erschüttern das kleine Land in seinen Grundfesten. Die politischen Parteien radikalisieren sich zunehmend. Und dann: Das Drama von Schattendorf. Am 13. Jänner 1927 werden bei einem Treffen des Schutzbundes ein Bub und ein Invalide von Mitgliedern einer Frontkämpfervereinigung erschossen. Der Prozess in Wien endet mit einem für viele Sozialisten skandalösen Urteil.

Menschen stehen in Gruppen beisammen und tuscheln. Alle haben ernste Gesichter. Einige halten Zeitungen in den Händen und lesen den Umstehenden daraus vor. Irgendetwas muss passiert sein. "Was ist denn los?", fragt Fritz einen Mann, der die "Arbeiter Zeitung" gerade sinken lässt. "Da steht es schwarz auf weiß: Die Mörder sind freigesprochen worden!", sagt der Fremde. Obwohl er erst elf Jahre alt ist, weiß Fritz genau, was der Mann meint. Seit Tagen erwarten die Wiener das Urteil im Schattendorf-Prozess mit Spannung. "Freigesprochen?", wiederholt Fritz ungläubig. Eines der Opfer war doch ein Kind, drei Jahre jünger als er selbst. "Klassenjustiz", sagt der Fremde.

Fritz Probst, Jahrgang 1916, Wien

Und dann marschieren die Massen Richtung Justizpalast. Es ist der 15. Juli 1927. Fritz Propst berichtet: "Die Leute haben begonnen, den Justizpalast zu stürmen, und haben die ganzen Akten hinuntergeworfen und sie angezündet. Dann hat der Justizpalast zu brennen begonnen. Die Polizei ist aufmarschiert und es ist zu Straßenkämpfen gekommen." Der Brand des Justizpalastes und die annähernd hundert Toten werden zum Fanal der Ersten Republik. Der Vorfall verhärtet die Fronten zwischen den paramilitärischen Verbänden, dem "roten" Schutzbund und der "schwarzen" Heimwehr. Ein Weg, der sieben unruhige Jahre später im blutigen Februar 1934 münden wird.

Die Februarkämpfe werden mehr als 300 Tote und Hunderte Verletzte fordern. Die Sozialistische Partei wird verboten, Mandate in öffentlichen Ämtern werden annulliert. Ein großer Teil der Bevölkerung ist zur politischen Untätigkeit verdammt. Das Gefühl der Ohnmacht verbittert die Menschen und macht sie zur leichten Beute für die Propaganda des Nationalsozialismus.

"Aufmachen! Sofort aufmachen!". Die Brüder werden fast gleichzeitig wach, springen aus den Betten. Die Nazis sind gekommen, um Otto zu verhaften. Sekunden später stehen zwei junge Männer im Raum. Sie tragen Gummiknüppel und ein hämisches Grinsen im Gesicht. Dahinter stehen die Eltern, bleich vor Angst. "Los, du Systemschwein, du kommst jetzt mit!", schreit einer und packt Otto grob am Oberarm. Der Student wendet sich schon zum Gehen, als ihn ein Fußtritt trifft. Die Mutter springt mit einem Schrei zwischen ihren Ältesten und die jungen Nazis, der Dicke holt wortlos aus und schlägt sie nieder. Sie fällt auf einen Sessel, der Uniformierte lässt seinen Gummiknüppel auf ihren Rücken niedersausen. Fritz sieht alles wie in Zeitlupe: Das Blut im Gesicht der Mutter, den Hass in den Augen des Bruders, die Ohnmacht des Vaters. Fritz Molden, Jahrgang 1924; Wien

Es ist einer der prägenden Momente im Leben von Fritz Molden. "Wenn leichte Zeiten sind, braucht man kein Patriot sein. Brauchen tut man Patriotismus in schwierigen Zeiten, damit man sich festhalten kann", sagt er in seinem letzten Interview.

Schon in den ersten Tagen der Nazi-Herrschaft werden über 70.000 Menschen, vor allem Juden, Monarchisten und Kommunisten, Politiker und Intellektuelle des Ständestaates verhaftet.

Das Straßenbild hat sich im Frühjahr 1938 gewandelt. Die Städte erscheinen wie in ein Meer aus roten Hakenkreuzfahnen getaucht. Manche Bürger sehen sie mit Begeisterung, manche mit Angst. Kaum jemand ahnt, welche Katastrophe die Bewegung, für die es steht, über Österreich und die Welt bringen wird. Überzeugte Österreicher sind in der Ersten Republik selten. Erst sieben Jahre Nazi-Herrschaft und Krieg werden die Österreicher erkennen lassen, was sie verloren haben.

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