Wie oft habe ich zuletzt mit Freunden, Bekannten, Familienmitgliedern über die politische Stimmung in unserem Land diskutiert! Und überall den gleichen Grundton gespürt: Weg mit den Amtsträgern! Korrupt und orientierungslos seien sie, machtversessen auch - und doch nur Marionetten von Banken, Konzernen und Medien.
Folglich sei jetzt Nichtwählen angesagt oder aber Protest - also die Stärkung derer, denen man sonst nie die Stimme geben würde. Nur ja jene abwählen, die jetzt agieren. "Hören Sie auf zu vertuschen“, rief Sonntagabend sogar der sonst schaumgebremste NEOS-Chef im ORF den anwesenden Ministern zu. Unwillkürlich habe ich mich gefragt: Woher diese Gewissheit, dass da etwas zu vertuschen sei?
Keine Frage: Vieles ist zuletzt unselig gelaufen. Aber: Was davon geschah schuldhaft, gar aus kriminellem Antrieb? Was aus dem Zwang der Umstände? Was guten Glaubens? Wie viel Verschulden lastet auf jenen, die nun den Schutt wegräumen müssen? Und: Wer vermag jetzt die "Wahrheit“ zu finden: Gerichte? Parteienvertreter im Parlament? Untersuchungskommissionen? Medien? Wer sonst?
Vor allem aber: Wie kann es je gelingen, die Pflicht zur Aufklärung getrennt zu halten vom Dunst des Generalverdachts, vom alles überwuchernden Argwohn?
Tag für Tag hören wir den Schrei nach mehr transparenter Demokratie. Das ist richtig - und jetzt besonders wichtig. Aber Demokratie setzt auch eine Balance von Grundvertrauen und Kontrolle voraus. Der latente Argwohn zwischen Bürger und Staat ist in totalitären Regimen zuhause - und trägt den Keim des Zerstörerischen in sich.
Wutbürger und Eliten
Mein Berufsweg hat mich jahrzehntelang in die Nähe vieler geführt, die unsere Republik mitgestaltet haben - und noch immer gestalten. Dass sie bei Entscheidungen auch das Wohl von Gesinnungsfreunden, Partei- und Gruppeninteressen mitbedacht haben - wer wollte das leugnen? Aber sie waren und sind - von Ausnahmen abgesehen - keine Spitzbuben, keine Lobbyisten und nicht vom Machtwahn getrieben. Die meisten waren und sind anständige Menschen, sind fleißig und patriotisch.
Vor Jahren habe ich in den USA ein Buch gekauft: "The Irony of Democracy“. Seine zentrale These: Die besten "Volksvertreter“ sind gar keine Durchschnittsbürger, sondern "Eliten“, die aber bereit und fähig sind, wie "Volksvertreter“ zu agieren. Würde nämlich der Bürger - also wir alle - zum Maßstab der Politik, es stünde weit schlechter um die Nation. Denn die augenzwinkernde Übertretung von Gesetzen, Vorschriften, ethisch-moralischen Grundsätzen sei an der "Basis“ noch weit mehr zuhause als in der Politik.
Eine harte Botschaft, im Einzelfall auch fragwürdig. Aber ob sie ganz falsch ist? Sie fällt mir immer dann ein, wenn mir "Wutbürger“ gerade jetzt erzählen, dass sie es - "wegen denen da oben“ - mit ihren Bürgerpflichten jetzt auch nicht mehr so ernst nehmen werden.
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