Vom Widerstand zum Überleben

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Bei Nootebooms "Allerseelen" denkt man an Peter Weiss.

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Bei Nootebooms "Allerseelen" denkt man an Peter Weiss.

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Berlin spielt im neuen Roman von Cees Nooteboom "Allerseelen" eine zentrale Rolle: Nach Berlin kehrt der Filmemacher Arthur Daane, der bei einem Flugzeugunglück Frau und Sohn verloren hat und seither ein Weltreisender ist, immer wieder zurück.

Im ungeteilten Berlin trifft er den Philosophen Arno und den Bildhauer Victor mit seiner russischen Frau Zenobia, mit ihnen ißt und diskutiert er, dabei lebt er auf. Berlin als geographisches Zentrum mit dem Kosmos eines intellektuellen Freundeskreises: Parallellen zum Jahrhundertroman "Die Ästhetik des Widerstandes" von Peter Weiss tun sich auf. Die beiden Bücher haben mehr gemeinsam als den Ort des Geschehens. In beiden kommt der Kunst eine für das Leben bedeutende Rolle zu, die über bloßes Dekor und Freizeitvergnügen hinausgeht.

Beide können als geschriebene Diskurse, als dramatisierte Essays gelesen werden. Beide sind Steinbrüche, wobei die Bausteine, die gewonnen werden können, natürlich unterschiedlich sind: Bei Weiss sind sie aus der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte gebrochen und wären geeignet gewesen, einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus nicht nur zu pflastern, sondern auch unübersehbare Wegmarken zu setzen.

Im Falle Nooteboom sind die Bausteine vielleicht leichter, als sie erscheinen und vorgeben, aber gut genug, um als postmoderne Verzierung zu dienen. Peter Weiss läßt seine Hauptfiguren noch in der Illusion leben, daß Geschichte "gemacht" werden kann. Bei Nooteboom ist der Blick zurück, der Blick auf die Toten individualisiert. Das Bestreben kann nur noch in einem anstandsvollen Überleben liegen. Das Kollektiv ist kleiner geworden. War es bei Weiss noch die Arbeiterklasse, so ist es bei Nooteboom auf den kleinen Intellektuellenkreis zusammengeschmolzen.

In beiden Büchern spielt der Film eine nicht unwichtige Rolle. Peter Weiss hat selbst experimentelle Filme gedreht und die literarische Schnittechnik perfektioniert. Nootebooms Hauptperson ist als angesehener Dokumentarfilmer zwischen Estland, Kambodscha, Japan und Angola unterwegs und sammelt überdies Filmsequenzen für sein filmisches Tagebuch mit Stimmungen und Eindrücken, in denen es ums Abschiednehmen geht.

Nootebooms Personal redet viel über Kunst. Die Mauer ist gefallen, die Narben sind noch erkennbar, die Bagger mühen sich redlich. Widerstand ist nicht mehr nötig, jetzt gilt es einfach in einer Medienwelt zu überleben, und Arthur versucht sich als Kameramann in den Bußübungen und Exerzitien einer an abgegriffenen Bildern reichen Welt. Vor dem Kampf der Hauptpersonen von Peter Weiss' Roman sind Arthurs Bemühungen geradezu lächerlich, man könnte sagen beliebig. Doch er ist ein Kind seiner Zeit, unserer Zeit, und wir mit ihm.

Von Martin Walser wurde Nooteboom einmal abschätzig als Reiseschriftsteller abgetan, nicht nur, weil er und seine Figuren gerne reisen. Eine überzogene Kritik mit wahrem Kern, denn die Eindrücke der Personen, ihre Animositäten etwa gegenüber den Deutschen, das seelische Unterfutter, unberechtigt oder nicht, ist fein beobachtet und beschrieben, erinnert aber doch an Nachrichten aus dem gehobenen Feuilleton: "Weißt du noch, wie hier die ganzen Polen bei Aldi anstanden? Und wie sie sich mit diesen großen Pappkartons abschleppten, mit Fernsehern und Videorecordern? Wie lange ist das her, sieben Jahre? Die sind jetzt alle reich. Gib zu, das ist eigenartig. Gorbatschow kommt hierher, gibt Honecker einen Kuß, und das ganze Kartenhaus fällt in sich zusammen. Aber was haben wir nun eigentlich erlebt? Die Polen sind alle wieder zu Hause und stellen selbst Fernseher her. Wir haben am Bett der Weltgeschichte gesessen, aber der Patient war betäubt. Und jetzt ist er immer noch dabei aufzuwachen." "Wer ist der Patient?" "Wir, du und ich. Alle."

Nooteboom verfügt aber über Qualitäten, die ihn in seiner Zeit über viele andere Schriftsteller stellen, da bei ihm noch ein Hauch philosophischer Tiefe zu spüren ist, aber eben doch nur ein Hauch. Er versteht es, die Geschichte von Arthur und seine Trauer in einen allgemeinen Kontext zu stellen und mit einer gehörigen Portion Geschichtsphilosophie anzureichern.

Diese Dimension wird von der rätselhaften Eilik Oranje verkörpert, die sich mit einer spanischen Königin aus dem 12. Jahrhundert beschäftigt und alles daransetzt, sie aus der Vergessenheit zu reißen. Über Klüfte hinweg tanzen die Figuren auf einem dünnen Seil, selbst Teil des Umbruchs in Berlin, wo Veränderungen auch an Personen und deren Einstellungen festgemacht werden können. Mit Arthur wandert der Leser durch Berlin und es ist "erstaunlich, wieviel man auf ein paar hundert Metern denken kann".

Daß es sich um mehr handelt als um die Suche nach einem Leben mit Toten, Bekannten und Unbekannten, wird durch Einschübe signalisiert, deren Funktion jener der Chorszenen in der griechischen Tragödie ähnelt. Ein Versuch, dem Strom zu trotzen, in dem der Autor und wir trotzdem mitschwimmen. Da viel von Hegel die Rede ist, könnte es sich auch um eine Art Weltgeist handeln, literarisch, luftig-postmodern scheint die Sonne. "Ihr seid zwar sterblich, doch die Tatsache, daß ihr mit diesem einen winzigen Hirn über die Ewigkeit nachdenken könnt oder über die Vergangenheit und daß ihr dadurch, mit dem begrenzten Raum und der begrenzten Zeit, die euch gegeben ist, so unermeßlich viel Raum und Zeit einnehmen könnt, darin besteht das Rätsel. Stück um Stück kolonisiert ihr, zumindest sofern ihr es wollt, Epochen und Erdteile. Ihr seid die einzigen Wesen im gesamten Universum, die dazu in der Lage sind, und das ausschließlich, indem ihr denkt. Ewigkeit, Gott, Geschichte, das alles sind eure Erfindungen, es ist so viel, daß ihr euch darin verirrt habt. Alles ist echt und zugleich Illusion, damit läßt sich tatsächlich schwer leben."

Nooteboom kennt die Gefährlichkeit des Zeitgeistes. Eilik flieht vor dieser Gegenwart, da sie findet, "eine große Verkindlichung habe eingesetzt, eine fatale, unerträgliche Oberflächlichkeit bei Menschen, die ihre Individualität dadurch beweisen zu wollen schienen, daß sie en masse über dieselben Witze lachten, dieselben Kryptogramme lösten, dieselben Bücher kauften, und meist nicht lasen, eine derart unangenehme Selbstgefälligkeit, daß einem fast schlecht wurde."

Allerseelen. Roman von Cees Nooteboom Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999. 436 Seiten, geb., öS 350,-/e 25,44

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