Von der Gruppe zur offenen Szene

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Die Germanistin und Anglizistin Alexandra Millner hat Wiens Literaturszene des 20. Jahrhunderts erhoben. Hubert Christian Ehalt im Gespräch mit Alexandra Millner.

Kontinuitäten und Brüche prägen, um Wendelin Schnidt-Dengler zu zitieren, die Literaturszene in Wien von 1900 bis 2000. Alexandra Millner hat dazu einen Band vorgelegt (s.u.).

Hubert Christian EHALT: Wie kann man 100 Jahre literarisches Leben in Wien in einem 200-seitigen Buch zusammenfassen?

Alexandra Millner: Es bräuchte eine mehrbändige Arbeit, um der literarischen Vielfalt in Wien gerecht zu werden. Deshalb habe ich mich auf zwei Punkt konzentriert. Zum einen, ein Handbuch zu schreiben, einen Überblick zu schaffen über die literarischen Salons und die Zirkel, die mehr oder weniger politischen Vereinigungen und die gruppenbildenden Zeitschriftenredaktionen sowie über die germanistischen Einzelpublikationen, auf die ich aufbauen konnte. Das Buch soll zum Weiterforschen anregen. Es gibt aufgrund der Namenslisten noch vieles zu entdecken: Wer zog die Fäden im Hintergrund? Welche Namen tauchen - egal unter welcher politischen Ägide - immer wieder auf? Es geht, um Wendelin Schmidt-Dengler zu zitieren, um "Kontinuitäten und Brüche“. Zum anderen hat mich ein soziologisches Interesse angetrieben: Wie haben sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Wien seit 1900 organisiert? Wurden zu bestimmten Zeiten bestimmte Organisationsformen bevorzugt? Deshalb habe ich versucht, die Strukturen der Literaturszenen herauszuarbeiten.

H. C. EHALT: Wie äußern sich denn die historischen sozio-politischen Entwicklungen seit 1900 im literarischen Leben Wiens?

Millner: Um es kurz zu fassen: Das literarische Leben wird - wie die Kultur und die Gesellschaft insgesamt - zunehmend demokratischer. Trafen sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller zuvor im exklusiven privaten Rahmen der Salons, so gingen sie gegen Ende des Jahrhunderts in die Halböffentlichkeit des Kaffeehauses. Die Literatur- wie Intellektuellenszene wurde niederschwelliger und, was die Klassen-, Berufs-, Generations- und ethnische Zugehörigkeit betrifft, auch durchlässiger.

Das zeigen die Publikationsorgane der Expressionisten, die gegen Ende des Ersten Weltkriegs eine Blüte erfuhren und Texte von sozialistisch, kommunistisch und revolutionär Gesinnten beinhalteten. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren dies die informellen Runden um Hans Weigel und Zeitschriftenherausgeber wie Hermann Hakel (Lynkeus), Otto Basil (Plan) oder Ernst Schönwiese (das silberboot). Die Namen in den Zeitschriften und Anthologien ergeben völlig andere Gruppierungen, als wir dies heute annehmen. Die Wiener Gruppe etwa, die sich nie bewusst konstituiert hatte, ging aus einer losen Gruppe hervor, die von Anfang an Elfriede Gerstl, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker oder Andreas Okopenko umfasste. Keine dieser Gruppen kann man isoliert betrachten; um zu verstehen, muss man den Gesamtzusammenhang sehen.

H. C. EHALT: Wie machte sich das Symbol-Jahr 1968 in der Wiener Literatur bemerkbar?

Millner: In den 1970-Jahren wurde eine Art Gegenliteratur manifest: Es gab kommunenartige Wohn- und Arbeitsgemeinschaften wie etwa die Hundsblume um Robert Schindel. Die Zeitschrift Wespennest wurde 1969 von Peter Henisch und Helmut Zenker als Organ für sozialkritische Literatur - "brauchbare Texte und Bilder“ - gegründet. Ich habe auch weniger beachtete Namen und Gruppen wie die Informelle Gruppe um Rolf Schwendter oder die Zeitschrift Frischfleisch (&Löwenmaul) berücksichtigt.

H. C. Ehalt: Was ist das Besondere an der Wiener Literaturszene?

Millner: Neben der Salon- und der Kaffeehausliteratur muss auf eine negative Besonderheit hingewiesen werden: nämlich die Zeit des Nationalsozialismus. Die sogenannte Gleichschaltung des literarischen Lebens konnte 1938 nur deshalb so schnell funktionieren, weil zuvor im Untergrund alles gründlich vorbereitet worden war. Schließlich war der Zusammenschluss der Autorinnen und Autoren, die sich im Bekenntnisbuch österreichischer Dichter (1938) offiziell zum Nationalsozialismus bekannten, bereits 1936 erfolgt. Mit einem Schlag wurde damals das im Austrofaschismus ohnehin schon dezimierte Spektrum literarischer Vereinigungen völlig vernichtet. Mit der Nachbereitung nahm man es weniger genau: Ehemalige Nazi-Sympathisanten durften nach 1945 wieder veröffentlichen. Unter anderem deswegen wurde 1973 die GAV (Grazer Autorinnen Autorenversammlung) als Gegenpol zum österreichischen P.E.N.-Club gegründet. Dies war kein genuin wienerisches, sondern ein österreichisches Phänomen. In Wien waren jedoch die Schaltstellen und Treffpunkte angesiedelt.

Die Furche: Was waren die wichtigsten Phasen des literarischen Lebens in Wien?

Millner: Umbruchphasen, allen voran wäre die Wiener Moderne um 1900 mit Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannstahl oder etwa Karl Kraus zu nennen. Der Nachkriegszeit entstammen bedeutende Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und H.C. Artmann, aber auch Heimito von Doderer. Die 1980er-Jahre führten durch arbeitsrechtliche Verhandlungen zur Professionalisierung des Berufsstandes der LiteratInnen. Das ist auch wichtig.

Die Furche: Wie würden Sie das literarische Leben im heutigen Wien beschreiben?

Millner: Heute kann ein und dieselbe Autorin im Wespennest, den manuskripten oder der kolik veröffentlichen; selbst Doppelmitgliedschaften im P.E.N.-Club und in der GAV sollen schon vorgekommen sein. Das wäre früher nicht möglich gewesen! Diese Literaturlandschaft muss in ihrer Geschichte gedacht werden.

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