Von der Krankheit unserer Zeit

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Das Interesse an Geschichte scheint bei uns nur dann vorhanden zu sein, wenn es sich zur Vermarktung eignet. Kaiserschmarren und Nazihorror finden reißende Absätze. Allzu genau will man es aber nicht wissen. Unsere Vergangenheit ist, was ihre Aufarbeitung betrifft, ein beschämender Fleckerlteppich. Wir haben verlernt, unsere Entwicklungen mit unserer Geschichte zu verknüpfen. Peinliche Politiker marschieren je nach Bedarf mal hinter habsburgischen Särgen, mal mobilisieren sie die Genossen Arbeiter, deren Arbeitsplätze sie ohnehin bereits wegrationalisiert haben, mal verkünden sie dies, mal das Gegenteil davon.

Wien wird von Tag zu Tag schicker. Kaum noch ein altes Haus ohne vermietbare Dachaufbauten, ohne gläserne Kuppeln oder Kästen, ohne luxuriöse Wohn-, Büro- oder Geschäftsflächen. Gewaltsam wird der Vergangenheit neumodische Architektur aufgepappt. Überall sind Geld und Gier spürbar.

Es gibt aber auch den Willen zur Umkehr und einen Schimmer Hoffnung. Architekt Manfred Wehdorn hat mit der Generalsanierung des Stadtpalais des Fürsten Liechtenstein hinter dem Burgtheater eine Tat gesetzt. Hier wurde zuerst geforscht und dann gebaut, und so konnten wertvolle Erkenntnisse für den Denkmalschutz gewonnen werden. Die einzigartige Symbiose aus Hochbarock und üppigstem Biedermeier wurde wieder in ihren ursprünglichen Zustand gebracht. Das Alte aus dem Geist des Alten und das Neue neu errichten: dazu fehlt heute fast immer der Mut.

Statt mutiger Entscheidungen gibt es faule Kompromisse. Weder Ringstraße noch Stadtbahn hätten mit dieser Haltung gebaut werden können. Wir sollten unserem müden Dahinwursteln eine Pause gönnen. Über Gesichtslosigkeit kann nämlich kein noch so schickes Lebensgefühl hinwegtäuschen. Sie ist die Krankheit unserer Zeit.

* Der Autor ist Kulturmoderator beim Privatsender ATV

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