Von der Schöpfung bis zur DNS

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"Sie haben unser ausgefuchstestes Konzept entschlüsselt, nämlich daß Leben letztendlich Lesen heißt. Sie selber sind das Buch der Bücher", hört man die Himmlischen im Prolog von Harry Mulischs wohl bekanntestem Roman "Die Entdeckung des Himmels" (1992) reden. Die DNS ist entdeckt: "Mit genau diesem Code haben wir sie viel zu schlau gemacht."

Mit "Das Attentat" (1982) erlangte der niederländische Autor auch internationalen Ruhm, seine Bücher wurden verfilmt und in viele Sprachen übersetzt - und bald galt er auch als Kandidat für den Nobelpreis, den er nun nie erhalten wird, weil er am 30. Oktober in Amsterdam gestorben ist.

Sein Register reichte von witzig-vergnüglichen und ironischen Tonlagen bis zu berührenden und nachdenklichen Auseinandersetzungen mit Themen wie Schuld und Tod. Auf den fast 800 Seiten von "Die Entdeckung des Himmels" wollen die Himmlischen die zwei Dekalogtafeln zurückholen und beauftragen damit ein Kind. Nicht nur Mulischs Fantasie, auch seine Belesenheit etwa in Theologie und Kulturgeschichte, ist immer wieder beeindruckend.

In "Die Prozedur" (1998) spannte der 1927 in Haarlem geborene Autor den Bogen von der Schöpfung des Menschen über Rabbi Löw, der Kaiser Rudolph einen Golem schuf, bis zur säkularisierten Welt (die Basilika als Einkaufs- und Wohnzentrum), in der die Buchstabenkombinationen der DNS die der jüdischen Mystik ersetzt bzw. weitergeführt haben. Viktor Werker, Biochemiker und der neue Homo Faber, hat aber den Tod nicht in seiner Hand - nicht den seiner Tochter, nicht den eigenen. Die Technik hilft nicht, den Tod zu verhindern, und der Glaube fehlt, mit dem Tod zurechtzukommen. "Wer sofort mitgezogen werden will, um die Zeit totzuschlagen, der kann dieses Buch besser gleich wieder zuschlagen, den Fernseher einschalten und sich auf der Couch nach hinten lehnen, wie in einem warmen Schaumbad", warnt Mulisch seine Leser auf der ersten Seite.

Das große Trauma und die Schuld des 20. Jahrhunderts haben Mulisch und sein Schreiben geprägt. Täter und Opfer hatte er in der eigenen Familie: Sein Vater, ein ehemaliger k. u. k. Offizier, verwaltete das konfiszierte jüdische Vermögen und wurde dafür nach dem Krieg wegen Kollaboration drei Jahre interniert. Mulischs Mutter, von der sich der Vater 1936 scheiden ließ, war Jüdin, deren Angehörige im KZ ermordet wurden. 1961 berichtete Mulisch vom Eichmann-Prozess in Jerusalem, mit "Strafsache 40/61" schrieb er jene literarische Reportage, die auch Hannah Arendt schätzte.

Dem besonders verstörenden, 2001 auf Deutsch erschienen Roman "Siegfried" verpasste er den Untertitel "Eine schwarze Idylle". In dieser Fiktion über einen angeblichen Sohn Hitlers brütet der fiktive Schriftsteller Rudolf Herter, niederländischer Autor österreichischer Herkunft wie Mulisch, metaphysische Thesen über Hitler aus. Während Nietzsche geistig verfallen sei, wäre der Embryo Hitler herangewachsen - kein Zufall, sondern eine Art Seelenwanderung. Die deutsche Geistesgeschichte (Kant, Wagner, Schopenhauer ?) hätte die Erscheinung dieses "alles verschlingenden Nichts" vorbereitet: "Nach dem Tode Gottes stand das Nichts vor der Tür, und Hitler war sein eingeborener Sohn."

"Wir haben ausgedient. Die Welt hat ausgedient. Die Menschheit hat ausgedient - nur Luzifer nicht", heißt es im himmlischen Epilog der "Entdeckung des Himmels", was allerdings - zumindest in diesem Roman - nicht das letzte Wort bleiben wird.

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