Von der Schublade in die digitale Auslage

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Familien-und Dorfgeschichte kann im Internet wieder lebendig werden: Die Topothek ist eine Online-Plattform für Orte und Regionen. Das niederschwellige Bildungsprojekt soll sich auf ganz Österreich erstrecken -und ist bereits ein Fundus für private Ahnenforscher.

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Familien-und Dorfgeschichte kann im Internet wieder lebendig werden: Die Topothek ist eine Online-Plattform für Orte und Regionen. Das niederschwellige Bildungsprojekt soll sich auf ganz Österreich erstrecken -und ist bereits ein Fundus für private Ahnenforscher.

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Ob alte Fotos oder Alltagsgegenstände, es gibt zwei Arten von Sammlern. Die einen horten diese Fundstücke oder familiären Überreste eingesperrt zu Hause, damit ihnen nichts passiert. Andere wiederum wollen derartige Schätze aus der Vergangenheit, aus der Familien- oder Dorfgeschichte liebend gerne auch anderen zeigen und ihre Freude darüber teilen.

Genau das ermöglicht eine Topothek. Alleine die Tatsache, dass für diese wunderbare Bezeichnung, "Abstellraum" für "Orte", die Griechen Pate standen, würde einen Eintrag ebenda verdienen. Denn die Topotheken sind Online-Archive mit Suchfunktion via Ort oder via Schlagwort. Zeigt zum Beispiel eine uralte Postkarte Aufnahmen eines Dorfes von vor 100 Jahren, kann sie eingescannt, auf eine Internet-Plattform gestellt und dabei mit den entsprechenden Schlagwörtern versehen werden.

Datenbank mit Schlagworten

Möglich ist das, weil Alexander Schatek bereits vor einigen Jahren über eine stattliche Sammlung alter Aufnahmen vom Wiener Prater verfügte und diese alten Fotos, Postkarten, etc. in eine Ordnung bringen wollte. "Ich habe mir dafür eine Datenbank programmieren lassen, in der neben dem Bild die geographische Verortung in Form von Standpunkt und Blickrichtung und die notwendigsten Felder zur Verschlagwortung stehen." Das sollte der Beginn dafür sein, dass den Grafiker und Industriedesigner aus Wiener Neustadt sein Hobby mittlerweile zu 80 Prozent in Anspruch nimmt, wie er im Gespräch mit der FURCHE berichtet. 2010 kam er dann zufällig in Kontakt mit der Gemeinde Breitenstein am Semmering. Er erzählte von seiner persönlichen Online-Sammlung. In Zusammenarbeit mit der damaligen Vizebürgermeisterin entstand die erste offizielle Online-Topothek.

Die Sonnenbrille beispielsweise existiert seit den 1920er-Jahren. Davon kann man sich jetzt dank Schlagwortsuche in der Topothek überzeugen. Wer nach einem gewissen "Max Mustermann" aus dem vorigen Jahrhundert sucht, könnte ihn etwa auf drei online gestellten Fotos finden usw. Rund 120 Topotheken gibt es mittlerweile österreichweit sowie in einigen anderen Ländern. Was in Niederösterreich begonnen hat, breitet sich langsam bis Vorarlberg aus. Dazu braucht es freilich Kooperationspartner. "Beim ersten Mal wird man rausgeschmissen", plaudert der Initiator aus dem Nähkästchen. Aber eine lenkende Hand sei wichtig. Dank Niederösterreichischem Landesarchiv gibt es gemeinsame Einschulungen, die für eine gewisse Qualitätssicherung sorgen, so Alexander Schatek. Jede Gemeinde kann sich dazu entscheiden, eine Topothek einzurichten. "Wir stellen dann die Online-Plattform und das Know-how zur Verfügung." Das kostet eine Gemeinde 50 Euro pro Monat.

Die zuständigen Topothekare übernehmen das Einpflegen der Daten, also hauptsächlich Fotos, und ihre Verschlagwortung. Das heißt, sie scannen ein und beschriften -das Material kann aber jeder bringen. "Ich habe hier etwas Besonderes gefunden", so fange es bei vielen Menschen ab Mitte 40 oder 50 an, dass sie Wertschätzung für Vergangenes empfinden, meint Topotheken-Pionier Schatek. "Aber was soll ich jetzt damit tun?", fragen sich viele. "Die Topothek hat das Potenzial, Dinge hervorzuheben, die für die Leute relevant sind." Damit sie eben nicht in Schubladen verstauben: "Das ist in der emotionalen Ebene vergraben, was Freude macht", so Schatek. Mit der Idee zur Topothek hat er ganz offensichtlich seine eigene Freude durch das Teilen vermehrt.

Gratis für alle Benützer

Das ist es, was auch Dagmar Weidinger so an Alexander Schatek faszinierte, als sie ihn im Rahmen einer Pressekonferenz kennenlernte. Also übernahm sie ebenso fasziniert die Öffentlichkeitsarbeit für die Topothek. "Es ist kein Bildungsprojekt nur für den Elfenbeinturm, sondern niederschwellig, also gratis für alle Benützer, und hat eine Mission", erklärt sie. Die Topothek werde von vielen privaten Ahnenforschern genützt. Bei der Programmierung habe man daher darauf geachtet, dass sie so einfach wie möglich zu bedienen ist.

Je niedriger die Zugangsschwelle, desto freier der Zugang zu historischen Dokumenten. "Die Geschichte", so Alexander Schatek, "wird so zu einem Aspekt der eigenen Persönlichkeit und nicht nur ein von der Wissenschaft entworfenes Narrativ. Das ist speziell für nicht wissenschaftlich suchende Personen sehr wichtig." Und hobbymäßige Ahnenforscher gibt es wohl in jeder zweiten Familie.

Wer um die spannenden Geschichten der Bauwerke und ihrer Bewohner Bescheid weiß, wird achtsamer mit seiner Umgebung umgehen, so Schateks Überzeugung. Und er unterstreicht einen weiteren sozialen Aspekt: "Die bestehenden Topotheken haben gezeigt, dass sie die Menschen zusammenbringen. Hier wird etwas in die Welt gesetzt, das sinnvoll ist. Kulturell sowieso, aber eben auch sozial. Es ergeben sich neue Rollen für -speziell ältere -Menschen in den Gemeinden." Das Motto lautet: "Sichert euer Wissen für die nächste Generation."

Es ist ein Gewinn für alle, wenn Laienforscher der Wissenschaft zuarbeiten. Die Topothekare selbst sind oft pensionierte Lehrer, Amtsleiter oder Journalisten. Jedenfalls Menschen, die Mitteilungsfreude haben und kommunikativ sind, "am besten mit Unterstützung der Bürgermeister", fügt Initiator Schatek dazu. Sie wissen zumindest, wie man eine Dorf-oder Familienchronik schreibt, oder haben einen Heimatkunde-Kurs absolviert.

Eine der mehr als 300 ehrenamtlich Tätigen ist Karin ZoubekSchleinzer, im Zivilberuf Unternehmensberaterin. Sie leitet die allererste Topothek in Breitenstein (Bezirk Neunkirchen, NÖ). Die ehemalige Vizebürgermeisterin ihrer Gemeinde interessierte sich als Zugezogene für die Geschichte des Ortes und der Gegend. Die Semmering-Region ist reich an Bauwerken und Geschichten. Durch die Erzählungen und Fotodokumente der vergangenen Jahrzehnte sei ihr vieles klarer geworden: "Warum die Menschen so sind, wie sie sind; warum gewissen Entwicklungen Grenzen gesetzt waren; was äußere Einflüsse, zum Beispiel die Österreichischen Bundesbahnen, bewirkt haben."

Wachsende Dynamik

Josef Koppensteiner ist Topothekar in Guntramsdorf (NÖ) und arbeitete davor bereits für das dortige Heimatmuseum. Dabei fielen ihm die vielen eingescannten Fotos auf. Um das Material in größerem Umfang einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren, beschloss die Gemeinde 2015, eine Topothek zu starten. Der Ort war und ist geprägt von Landwirtschaft und Weinbau sowie Industrie. Ehemalige Fabriksmitarbeiter -mehrere hundert waren es bis zur Textilkrise in den 1960er-Jahren -interessieren sich heute natürlich dafür, Fotos aus der Fabriksgeschichte zusammenzutragen. So kommt zum historischen Aspekt der soziale hinzu: Die Leute treffen sich, um sich über die Bilder auszutauschen, und neue Kontakte entstehen. Diese erweitern wiederum ihrerseits wie nach dem Schneeballprinzip die Topothek mit Hintergrundwissen und Einträgen. Ihre Anzahl reicht von ein paar hundert bis ein paar tausend, je nach Topothek.

Derzeit gibt es noch ein starkes Ost-West-Gefälle. Mit fast 70 hat Niederösterreich die meisten Topotheken, Oberösterreich folgt an zweiter Stelle; in Salzburg, Steiermark, Kärnten oder Tirol wurde noch keine einzige Topothek eingerichtet, die Region Bregenzer Wald wird laut Angaben von Alexander Schatek demnächst aktiv. Die zahlreichen Auszeichnungen, die das Topotheken-Projekt bereits eingeheimst hat, seien wichtig, damit die Institution ernst genommen werde. Entscheidend ist für ihn momentan aber, den Sprung in die Bundesländer zu schaffen. "Wir suchen Öffentlichkeit. Und die kostet Geld."

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