Von der Utopie eines Chors aus Arbeitslosen

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Das Volkstheater zeigt die Uraufführung von Ulf Schmidts preisgekröntem Stück "Der Marienthaler Dachs" in der Regie des Polit-Provokateurs Volker Lösch.

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Das Volkstheater zeigt die Uraufführung von Ulf Schmidts preisgekröntem Stück "Der Marienthaler Dachs" in der Regie des Polit-Provokateurs Volker Lösch.

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Im deutschsprachigen Gegenwartstheater gibt es kaum eine Paarung von Autor und Regisseur, die man für so naheliegend hält, wie jene, die Anna Badora, neue künstlerische Direktorin des Volkstheaters, nun mit "Marienthaler Dachs" Wirklichkeit hat werden lassen. Die Rede ist von Autor Ulf Schmidt, promovierter Theaterwissenschaftler, Blogger und selbsternannter Postdramatiker sowie von Regisseur Volker Lösch, ebenso erfolgreich wie umstritten - kein theatraler Filigrankünstler, sondern einer dem nach eigener Aussage kein Roman und kein Theatertext heilig ist, dessen Wahrzeichen aber vor allem ist, die Wirklichkeit ins Theater zu holen, indem er Laien rekrutiert: Arbeitslose, ehemalige Gefängnisinsassen, alleinerziehende Mütter, Migranten, die im Chor auftreten und aus ihren authentischen Alltagserfahrungen deklamieren.

Vater Staat, Mutter Konzern

Was Lösch und Schmidt verbindet und ihre Zusammenarbeit so selbstverständlich erscheinen lässt, ist das vehemente Eintreten für eine Re-Politisierung des Theaters. Aus der Überzeugung heraus, dass Kunst, die sich nicht mit dem Heute auseinandersetzt, vollkommen sinnlos sei, suchen beide - auf unterschiedliche Weise - nach Möglichkeiten Theater im Heute wirksam zu machen. Bei Schmidt zeigt sich das einerseits inhaltlich: Er thematisiert den Wandel in spätmodernen Gesellschaften, die zunehmende Ökonomisierung des Sozialen und die Überforderung des Individuums mit dem Imperativ der Leistung als das Gebot der Stunde. Andererseits geht das einher mit der Reflexion der Mittel des Theaters im digitalen Zeitalter: So findet Schmidt für sein "agiles Theater" formale Mittel, beispielsweise in der simultanen Anordnung der Dialoge, die das klassische Repräsentationstheater mit der Struktur der dramatischen Situation und Einfühlung konsequent zu unterlaufen sucht. Auch Lösch verweigert sich einer Einfühlungsästhetik. Er hebt das dramatische Prinzip der Verkörperung von fiktionalen Einzelfiguren weitgehend auf, indem er ihnen einen Chor entgegensetzt. Zudem gehört es geradezu zu seinem Markenzeichen, dass er dokumentarisches Material in die fiktionalen Stoffe montiert.

Nun ist auch die Uraufführung des mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichneten "Marienthaler Dachs" viel mehr chorisches Theater als ein eigentliches Protagonistentheater. Der Autor hat das schon im Stück so angelegt, denn es gibt kaum noch individuelle Figuren. Schmidt überschreibt die dramatis personae mit sozioökonomischen Konkreta. So besteht eine Familie in wirtschaftlich darniederliegenden Marienthal aus Vater Staat, Mutter Konzern, Tochter Gesellschaft und dem Kleinen Mann.

Allegorien und Kalauer

Der Bürgermeister heißt Dieter Oben (was sich so anhört wie "die da oben"). Zu den in Unordnung geratenen Welt Marienthals gehören u.a. noch Oma Gustav, Opa Rosmarie, Andi Arbeit oder der Herr Knecht. Und auch mit dem titelgebenden Dachs, zu dem alle im Dorf aufschauen und von dem sie Rettung erwarten, ist natürlich nicht der pelzige Vierbeiner aus dem Wald gemeint, sondern nur der über die Homophonie mit ihm verwandten Dax aus Frankfurt.

Es versteht sich fast von selbst, dass bei solchen allegorischen Namen das Stück vor allem aus kalauernden Wortspielen besteht. Zwar erzählt Schmidt auch von der Angst um die Existenz und wie das zu Wut, Gewalttätigkeit und Fremdenhass führt, kritisiert die neoliberale Wirtschaftsordnung und doziert über die Verbesserung der Gesellschaft. Das Stück aber lebt vor allem davon, dass alles was gesagt wird, als Äußerung für die persönliche Beziehungen der Figuren untereinander verstanden werden kann oder aber als Sprachform der Finanzmarktrhetorik, als Kapitalismusjargon identifiziert wird. Das ist über weite Strecken witzig und wird durch die comichafte Überzeichnung der Figuren von Lösch ins Groteske gesteigert.

Aussortiert und isoliert

Der eigentliche Protagonist der Inszenierung, der im Stück so gar nicht vorgesehen ist, ist der Laien-Chor. Lösch beginnt auch mit einem Chorstück. Eine in blaue (Einheits) Kleidung gewandete Arbeiterschar (rekrutiert aus Wiener Arbeitslosen) erzählt während sie fröhlich Decken falten vom einstigen kurzen Marienthaler Glück und dem Niedergang der Fabrik. Dann erzählen die 20 Chormitglieder aus ihrem Alltag als Arbeitslose: vom Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden, aussortiert und isoliert zu sein, von vergeblichen Bewerbungen, von schlecht bezahlten Kurzjobs. Auch wenn Lösch keinen der Vorschläge, die Schmidt für die Inszenierung seinem Stück mitgegeben hat, berücksichtigt und auch hinsichtlich seiner theaterästhetischen Überlegungen vergleichsweise konservativ bleibt, entfaltet das Stück - wenn man es so nennen will - politische Sogkraft: Im theatralen Wahrnehmungsraum macht ein von Individuierung befreites energetischen Kollektiv durch die sprachliche Verlautbarung eine neue alte Gemeinschaft immerhin ahnbar.

Der Marienthaler Dachs

Volkstheater 2., 8., 10. Oktober

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