Von der Wirklichkeit überrollt

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Eine Zukunftswerkstatt, für die es keine Zukunft gab: Freya von Moltke läßt den Ort der Kreisauer Gespräche erstehen.

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Eine Zukunftswerkstatt, für die es keine Zukunft gab: Freya von Moltke läßt den Ort der Kreisauer Gespräche erstehen.

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Wenn vom Widerstand gegen das Nazi-Regime die Rede ist, taucht immer wieder auch der Hinweis auf den "Kreisauer Kreis" auf. Kreisau, ein Dorf im einstigen Schlesien, wurde schon im 19. Jahrhundert berühmt, weil der preußische Feldmarschall Helmuth von Moltke dort ein Gut besaß. Er erwarb es mit dem Geld, das er vom preußischen Staat für seinen Sieg über Österreich 1866 erhalten hatte. Die Schlacht bei Königgrätz begründete seinen Ruhm als Feldherr.

Pflichtschuldig zeigte die Familie bis zum Zweiten Weltkrieg Besuchern das Zimmer des Feldmarschalls. 1931 heiratete eine 20jährige Kölnerin einen Urgroßneffen des Feldherrn. Freya von Moltke hat jetzt, 86jährig, ihre Erinnerungen an die Ereignisse, die Kreisau während des Zweiten Weltkriegs zu einer Zukunftswerkstätte machten, vorgelegt: "Erinnerungen an Kreisau 1930-1945". Dabei verbreitet sie sich nicht über Dinge, die längst bekannt sind, daß nämlich ihr Mann zusammen mit Adeligen und Menschen aller Schichten wegen seines Widerstandes gegen Hitler hingerichtet wurde. Auch ihre eigenen Gefühle spart sie aus: kein Wort darüber, was sie als 34jährige empfand, als sie sich mit ihren Kindern im Chaos eines zerstörten Deutschland allein fand.

Sie will den Ort erstehen lassen, an dem konsequent, intelligent und verantwortungsbewußt über Deutschlands Zukunft nachgedacht wurde, während die Machthaber an seiner geistigen und materiellen Zerstörung arbeiteten.

Ihr Mann, Helmuth James Graf von Moltke, hatte eine südafrikanische Mutter. Weltoffenheit war oberstes Gebot. Von der militärischen Tradition war in der Familie nichts mehr zu spüren. Moltke erkannte früh Hitlers Pläne und lebte von Anfang an bis zu seiner Hinrichtung in "tiefem prinzipiellen und aktiven Gegensatz zu dem Regime". Der Graf wollte sich ein Tor in die Freiheit auftun, indem er in England ein weiteres juristisches Studium absolvierte und alle Voraussetzungen zur Rechtsanwaltszulassung in Großbritannien erfüllte. Während er in Berlin arbeitete und beruflich viel reiste, übernahm seine Frau nach dem plötzlichen Tod ihrer Schwiegermutter die Betreuung des landwirtschaftlichen Betriebs Kreisau. Das Gut, auf dem in der Notzeit Obst und Gemüse, Honig und Fleisch das Leben leichter machten als anderswo, wurde ab 1940 ein Ort geistiger Aufbauarbeit für die Zukunft.

Der "Kreisauer Kreis" hat heute einen zentralen Platz in der Geschichte des deutschen Widerstandes. Moltke bat einige Freunde, Bekannte, aber auch vertrauenswürdige Leute, die ganz andere geistige Wurzeln hatten, zu sich aufs Land: "Wirklichen Impetus bekam der erste Schritt, die Suche nach Menschen, die bereit waren, sich an so etwas zu beteiligen, mit dem deutschen Sieg über Frankreich im Sommer 1940, auf dem Höhepunkt der deutschen Kriegserfolge - nicht etwa erst, als erkennbar wurde, daß Deutschland den Krieg verlieren würde. Es war damals wirklich ein Glaubensakt, sich mit dem Danach zu beschäftigen, und sicher auch ein Akt der Selbsterhaltung, der Erhaltung der eigenen Integrität."

Der jungen Frau war die Gefährlichkeit solcher Treffen von Anfang an bewußt. Aber sie trug das Risiko, gemeinsam mit ihrem Mann. Drei lange Wochenenden traf man sich also, erarbeitete Unterlagen zu Themen, von denen man annahm, daß sie nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes brennend werden würden: Wie sollte eine neue deutsche Außenpolitik gestaltet werden? Wie konnte man aus den fanatisierten Deutschen Demokraten machen? Wie sollte der Wiederaufbau der Wirtschaft vonstatten gehen? Wie konnte es auf den Universitäten weitergehen, die sich schändlich kompromittiert und dem System angebiedert hatten? Welche Rolle würden die Kirchen beim Aufbau einer neuen Gesellschaft spielen?

Klare Antworten darauf wurden schriftlich festgehalten, abgetippt, weitergegeben. Freya Moltkes Mann und andere, die beruflich noch reisen durften, trugen die Ideen ins Ausland, nach Norwegen, Schweden, Dänemark, in die Türkei, nach Großbritannien und in die USA. Von nirgends kam ein Widerhall.

Acht der 26 Mitglieder des Kreisauer Kreises wurden nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 hingerichtet. Ihre Pläne, ihre Bemühungen blieben absolut fruchtlos: ein Zeugnis besten Willens, mutigen, aber vergeblichen Einsatzes. Ein Zeugnis konservativer, teilweise allzu national-konservativer Vorstellungen, überrollt von der Wirklichkeit.

Der zweite Teil des Buches ist ein in seiner Nüchternheit besonders ergreifendes Dokument. Hier schildert Freya von Moltke, wie sie als Witwe das Gut verlassen mußte, und wie sie die Not der Nachkriegszeit bewältigte. Sie erzählt ohne Klage, als Unschuldige ohne das Selbstmitleid sovieler schuldig Gewordener.

Erinnerungen an Kreisau 1930-1945 Von Freya von Moltke. Verlag C. H. Beck, München 1997, 160 Seiten, 20 Bilder, geb., öS 204,-

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