
Von einem, der sein schönes Gebiss verlor
Die mexikanische Autorin Valeria Luiselli wendet in "Die Geschichte meiner Zähne" das Drama eines unbedarften Mannes ins Komische, parodiert das klassische Unterhaltungsgenre und schlägt eine Menge Witz daraus. Ergebnis: ein schmales Buch, das es in sich hat.
Die mexikanische Autorin Valeria Luiselli wendet in "Die Geschichte meiner Zähne" das Drama eines unbedarften Mannes ins Komische, parodiert das klassische Unterhaltungsgenre und schlägt eine Menge Witz daraus. Ergebnis: ein schmales Buch, das es in sich hat.
Die Galerie Jumex, in einem Außenbezirk von Mexiko-City angesiedelt, gilt als eine der bedeutendsten Vermittlerinnen zeitgenössischer Kunst in Lateinamerika überhaupt. Sie ist angeschlossen der Sammlung Jumex, in der Arbeiten der wichtigsten Künstler unserer Zeit beherbergt sind. Finanziert wird das Ganze von den Besitzern einer Saftfabrik.
Als die mexikanische Schriftstellerin Valeria Luiselli im Jänner 2013 beauftragt wurde, einen Katalogtext zur Ausstellung "Der Jäger und die Fabrik" zu verfassen, sollte sie eine Reflexion über das Phänomen Brücke anstellen. Allen Beteiligten stand deutlich vor Augen, dass ihr ehrgeiziges künstlerisches Projekt den Arbeitern der Fabrik, die immerhin ihren Beitrag leisteten, um die Galerie am Leben zu erhalten, schwer zu vermitteln war. "Es gibt natürlich eine Kluft zwischen diesen beiden Welten: Galerie und Fabrik; Künstler und Arbeiter; Kunstwerk und Säfte. Wie sollte ich Brücken zwischen ihnen bauen?" Das fragte sich Valeria Luiselli und suchte sich einen Weg, um direkt an die Arbeiter heranzukommen.
Sie erinnerte sich daran, dass im 19. Jahrhundert kubanischen Zigarrendrehern Vorleser literarische und historische Bücher nahe brachten. Also stellte Luiselli Heftchen nach dem Prinzip von Fortsetzungsromanen her, um diese in der Fabrik zu verteilen und in Lesungen vorstellen zu lassen. Es bildeten sich Lese-und Diskussionszirkel, die Autorin hörte sich die Aufzeichnungen der Gespräche an, bevor sie ihre eigene Arbeit fortsetzte. So entstand ein Dialog zwischen Autorin und Arbeitern, ohne dass sich diese während dieser Zeit jemals gesehen hätten. Manche Episoden stammen gar aus den Gesprächen, die die Lektüre des work in progress unmittelbar hervorgerufen hat.
Ein singulärer "Roman"
Man muss die Entstehungsgeschichte des jüngsten Buches der eigenwilligen mexikanischen Autorin Valeria Luiselli nicht kennen, hilfreich ist sie aber doch, wenn man sich an dessen Lektüre macht. Immerhin lässt sich nachvollziehen, wie sie unmittelbar auf die Gegend der Fabrik und der Galerie reagiert.
Bemerkenswert ist Luiselli schon deshalb, weil sie noch keinen Gedanken niedergeschrieben hat, den andere schon gefasst haben. Material, das sie übernimmt, baut sie ein in ein Ganzes, die Geschichten, die ihr aus zweiter Hand zugespielt werden, unterwirft sie einem Verwandlungsprozess. Arbeitet sie mit Zitaten, bekommen diese eine neue Note, das Nachplappern behagt Luiselli gar nicht. Sie ist originalitätssüchtig, verlässt sich auf keine überkommenen Formen, die bequem zu füllen sind, bis ein gängiger Roman herauskommt. Ein Luiselli-Roman ist in seiner Anlage nicht wiederholbar. Er bleibt ein Singulär, das macht ihn zu etwas Besonderem. Nichts Vertrautes gibt es, das einem unterkommt, diese Autorin verlangt, dass wir uns gefälligst auf ihre Sicht auf die Welt einlassen. Wer dazu nicht bereit ist, fliegt raus. Rücksicht ist Luisellis Sache nicht.
Das ist schön und eine gehörige Zumutung. Die Autorin besteht darauf, dass wir vergessen, was wir von einem Roman erhoffen, mit ihr fängt alles neu an. Ist in Ordnung, aber bieten muss sie schon etwas, sonst begeben wir uns auf den Übungsplatz des angewandten Dilettantismus. In diesem Fall jedoch stellt sich bald heraus, dass hier eine mit Verstand und Witz an die Sache der Wirklichkeitserfindung geht. Wie macht sie das?
Als Erzähler tritt eine windige Figur in Erscheinung. "Ich bin der beste Auktionator der Welt", so stellt er sich vor. Er hält etwas auf sich, was nicht deckungsgleich ist mit der Wahrnehmung der anderen. Er erzählt seine Geschichte vom hässlichen Entlein, das er schon als Baby gewesen ist, über den Wachmann in einer Saftfabrik bis zum begnadeten Auktionator, der den Leuten das Blaue vom Himmel erzählt, um die Ware loszubekommen. So treibt der Roman -nennen wir das Buch so! - eine Vielzahl von Geschichten aus, alle zusammengehalten durch die Figur des Gustavo Sánchez Sánchez, der selbst in so kühner wie falscher Selbsteinschätzung findet, er sei "ein zurückhaltender Mensch". Die Offenheit der Form, die skurrile, meist faustdick erlogene Begebenheiten locker unter ein Dach bringt, entspricht dem Charakter des Maulhelden -sorry: Helden! - des Romans. Er lebt davon, als Vertreiber von Tand und Preziosen Aufmerksamkeit für Dinge zu schaffen, für die niemand sonst Interesse aufbringen würde. Es bedarf gewaltigen rhetorischen Geschickes, um Plunder mit Geschichten aufzumöbeln, damit diese zumindest an ideellem Wert zulegen. Er verscherbelt das Gebiss von Platon, Petrarca und anderen Geistesgrößen, ein schöner Schwindel also, was jedoch den Charakter des Buches an sich trifft, das aus Schwindel gemacht ist.
Natürlich entbehrt der Auktionator im Buch jeder natürlichen Ausstrahlung. Er ist ein Kunstprodukt der durchtriebenen Art, ein postmoderner weißer Clown, viel zu tragisch angelegt, als dass sich über ihn herzhaft lachen ließe. Er setzt sich zusammen aus Geschichten, deren magisches Zentrum und Leitmotiv die Zähne abgeben. Um sie dreht sich alles. Das eigentliche Trachten des verbohrten Helden geht danach, sein lädiertes Gebiss zu sanieren. Schöne Worte drängen aus einem schönen Gebiss hervor, deshalb ist es so wichtig, dass sich Gustavo mit dem Gebiss Marilyn Monroes schmückt. Ein zahnloser Auktionator, dessen Gerede in Unverständlichkeit versiegt, ist zum Scheitern verurteilt.
Gerade daran aber ist Luiselli gelegen, an einer Geschichte des Scheiterns. Um diese hinzukriegen, schlägt sie literarisch kühne Pirouetten. Sie mutet ihrem Impresario des Untergangs einiges zu, hetzt ihm seinen Sohn Ratzinger auf den Hals, der ihn nicht ausstehen kann, und jagt ihn durch eine Abenteuergeschichte, die zu groß für ihn ist, als dass er unbeschadet daraus hervorgehen könnte. Es geht haarsträubend zu, was ganz in Ordnung ist, denn die Wirkung von Spannungsgeschichten besteht nun einmal darin, dass sie mit einer völlig überdrehten Handlung Aufmerksamkeit schaffen. Luiselli wendet das Drama eines unbedarften Mannes ins Komische, parodiert das klassische Unterhaltungsgenre und schlägt eine Menge Witz daraus.
Verlierer der Gesellschaft
Gustavo gehört den Verlierern der Gesellschaft an. Er kommt von ganz unten und endet als ein Verlorener. So lässt sich das Buch als ein Entwicklungsroman ohne Entwicklung lesen. Einer endet dort, wo alles angefangen hat, im Elend. Er wird betrogen, bestohlen, verhöhnt und gedemütigt. Was ist schon von einem zu halten, der, seines geliebten Monroe-Gebisses schnöde beraubt, beschließt, "niemals mehr seine Zähne aus der Hand zu geben", und seinen Nachfolge-Ersatz als "Halbzeit-Gebiss" trägt.
Am Ende ist er sogar auf einen Erzähler angewiesen, der sich der Aufzeichnung seines Lebens annimmt. Der meint es immerhin gut mit ihm, folgt der Absicht seines Erzählobjektes, aus einem mediokren Leben wenigstens im Nachhinein etwas Großes herauszuschlagen. Das ist von unheimlichem, galligem Humor. Ein schmales Buch, das es in sich hat!
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