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Paul Lendvais "Reflexionen eines kritischen Europäers"

Macht ohne Missbrauch verliert ihren Reiz". Dieses Wort Paul Valérys ist gleichsam das Motto des zwölften Buches von Paul Lendvai. Es besteht aus Artikeln und Essays, die in europäischen Tageszeitungen und der Europäischen Rundschau in den letzten Jahren erschienen sind. Das Buch behandelt die politischen Ereignisse in bestimmten Ländern - wie Deutschland, den usa, Russland und Österreich -, von ganzen Regionen - vor allem Osteuropa und dem Balkan - und analysiert Institutionen wie der eu oder die Medien.

Braune und rote Diktatur

Lendvai wurde in Budapest geboren und kam 1957 nach Österreich. Die "hautnahe Bekanntschaft mit der braunen und roten Diktatur" hat sein Leben, sein politisches Denken und sein Geschichtsverständnis nachhaltig geprägt. Unerbittlich prangert er Machtmissbrauch an, etwa durch Putin. Dieser Machtmissbrauch hat zwei gefährliche Komplizen. Erstens die Lüge, etwa bei der Berichterstattung über das Geiseldrama von Beslan. Lendvai fühlt sich an die Zeiten der Sowjetpropaganda und die "obligatorische Zwangsernährung mit Lügen" (Solschenizyn) erinnert. Der zweite Komplize ist die Heuchelei, praktiziert etwa durch westliche Politiker von Berlusconi bis Schröder in Sachen Tschetschnien oder Chodorkowski.

Unparteilich, differenziert

Lendvais Berichte und Analysen zeichnen sich durch Unparteilichkeit, differenziertes Denken und klares Urteilsvermögen aus. Über Landeshauptmann Jörg Haider schreibt er fünf Jahre nach den EU-14 Maßnahmen gegen Österreich: "Dieser ebenso begabte wie unberechenbare Politiker bedeutet [...] keine Gefahr für die Demokratie, sondern in erster Linie für die Regierung." Bundeskanzler Wolfgang Schüssel respektiert er als "Baumeister des Wiederaufstiegs der övp und der politischen Zerschlagung der Populisten", Bundespräsident Heinz Fischer schätzt er als begabten Intellektuellen, erfahrenen Politiker und Garant der Stabilität.

Lendvai ist ein überzeugter Europäer. Ihn schmerzt das Desinteresse an der EU auch und gerade in den neuen Mitgliedsstaaten, etwa bei den Europawahlen 2004. Schon damals schrieb er von einer sich abzeichnenden "Vertrauens- und Kompetenzkrise" der EU und einer "allgemeinen Europaverdrossenheit". Die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden sollte seine Analysen ein Jahr später bestätigen.

Die Beiträge über Osteuropa und den Balkan sind für ein österreichisches Lesepublikum besonders interessant. Wie ein Kriminalroman liest sich das Interview mit dem später ermordeten Zoran Djindjic. Dieser hatte mit anderen Regimegegnern minutiös die Demonstrationen und die Revolution vom 5. Oktober 2000 vorbereitet und Milosevic buchstäblich ausgetrickst. Sein Resümee: Milosevic habe im entscheidenden Augenblick die Nerven verloren.

Politik ohne Populismus?

Besonders alarmiert zeigt sich Lendvai über den neuen islamischen Antisemitismus. Immer wieder werde "bewusst oder unbewusst die Grenze zwischen der berechtigten Kritik an Bush oder Sharon und der Revitalisierung des Judenhasses" überschritten. Häufig streift Lendvai grundlegende Fragen der Politik, der politischen Führung und der Medien. Es sei fraglich, heisst es etwa, "ob man in der Politik auf Dauer ohne Populismus erfolgreich sein kann."

Ein unverzichtbares Buch für alle, die sich für Politik und Zeitgeschichte interessieren.

Reflexionen eines kritischen Europäers

Von Paul Lendvai

Verlag Kremayr und Scheriau/Orac, Wien 2005

221 Seiten, geb., e 22,70

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