"Von Integration soll man nicht mehr reden müssen"

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Während Theresia Haidlmayr einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik fordert, betonen Franz-Joseph Huainigg von der ÖVP und seine SPÖ-Kollegin Christine Lapp die neuen Projekte der Großen Koalition für behinderte Menschen. Die Furche bat die drei Behindertensprecher im Parlament zu einem Streitgespräch.

Die Furche: Gibt es ein neues Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderungen oder überwiegen neue Barrieren?

Christine Lapp: Dem Abbau von Barrieren wird in der Gesellschaft nun mehr Beachtung geschenkt. Ich treffe aber auf viele Menschen, die psychisch krank oder lernbehindert sind, die sind eher am Rande der Gesellschaft. Hier muss mehr getan werden, um sie in den Mittelpunkt zu rücken. Barrieren gibt es für behinderte Menschen jeden Tag. Es muss selbstverständlich werden, dass deren Anliegen - im Sinne von "diversity" - automatisch in Entscheidungsabläufe einfließen.

Franz-Joseph Huainigg: Es gibt ein besseres Selbstbewusstsein bei behinderten Menschen. Man kann jetzt Rechte einklagen, wenn man auf Barrieren trifft. Ich sprach vor kurzem mit der ersten gehörlosen Lehrerin. Sie merkt schon, dass mehr Leute darüber Bescheid wissen und nicht mehr gesagt wird, das sei eine Herumfuchtelei. Neue Barrieren gibt es etwa im Internet, wo viele Seiten nicht zugänglich sind (für Sehbehinderte, Anm.). Bis Ende dieses Jahres müssen alle öffentlichen Seiten und jene, die öffentlichen Charakter haben, barrierefrei sein. Als größte neue Barriere betrachte ich aber die europaweite Euthanasiedebatte, bei der das Lebensrecht behinderter Menschen wieder in Frage gestellt wird.

Theresia Haidlmayr: Wir haben noch immer so viele Barrieren, dass es noch zwei Generation brauchen wird, um die alten Barrieren abzubauen; da rede ich noch gar nicht von neuen Barrieren, die erst noch entstehen werden. Man kann das nicht schönreden und sagen, das Behindertengleichstellungsgesetz habe etwas gebracht. Behinderte Menschen nehmen heute ihr Selbstbestimmungsrecht mehr in Anspruch. Da ist einiges passiert. Bei den nicht-behinderten Menschen aber nicht. Die Behindertenarbeitslosigkeit ist um weitere 1,8 Prozent gestiegen. Man kann sich immer noch zu Dumpingpreisen von behinderten Menschen am Arbeitsmarkt freikaufen.

Die Furche: Und neue Barrieren?

Haidlmayr: Da ist das Erleben, das wir behinderte Menschen Tag für Tag haben, heftig. Ein Beispiel: Eigentlich hätten wir gedacht, dass der Gesetzgeber seine ureigenen Gesetze auch umsetzt. Aber jetzt wird diskutiert, ob der Plenarsaal im Parlament auch barrierefrei gemacht wird. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Das müsste doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein! Diese Diskussionen, die hier im Haus geführt werden, sind dann gesellschaftsfähig und man sagt, alles was im Parlament erlaubt ist, das können wir uns draußen auch erlauben.

Die Furche: Glauben Sie, dass das Behindertengleichstellungsgesetz - das Anfang 2006 in Kraft trat und die Gleichstellung behinderter Menschen in allen Lebensbereichen beinhaltet sowie Instrumente festlegt, um gegen Diskriminierung vorzugehen - keine Verbesserungen gebracht hat?

Haidlmayr: Ein Gesetz, das Diskriminierung nicht beseitigt und verhindert, ist ein schlechtes Gesetz. Zudem gibt es sehr lange Übergangsfristen. Wir wünschen uns, dass es eine Beweislastumkehr gibt, die Übergangsfristen entsprechend reduziert werden, Barrieren beseitigt werden müssen und dass es Unterlassungen gibt. Wir haben daher zu Beginn dieser Legislaturperiode bereits wieder einen Initiativantrag eingebracht, den die Regierungsparteien abgelehnt haben. In der letzten Legislatur war die SPÖ noch für uns und jetzt ist sie dagegen.

Lapp: Das Gesetz ist zahnlos. Es muss noch viele weitere Meilensteine geben. Die Sache der Unterlassung einer Diskriminierung und den Beseitigungsanspruch haben wir noch nicht im Gesetz. Wir haben das in den Koalitionsverhandlungen diskutiert und uns geeinigt, dass wir die Instrumente, die jetzt im Gesetz festgehalten sind, genau anschauen. Im Gegensatz zu Kollegin Haidlmayr glaube ich, dass das Instrument der Schlichtung ein sehr innovatives ist. Es gab bisher ca. 600 Schlichtungsverfahren. Das Gesetz ist nur auf die Wirksamkeit des Bundes und Öffentlichen Dienstes beschränkt. Wir haben umgesetzt, dass es Berichte zu behinderten Menschen geben muss und diese öffentlich im Parlament diskutiert werden müssen.

Die Furche: Warum haben Sie dem Initiativantrag nicht zugestimmt?

Lapp: Die Kritik, dass wir 2005 anders argumentiert hätten als 2006, kann ich nicht teilen. Wir sind einen Schritt weitergekommen. Wir haben im Regierungsabkommen vereinbart, dass die Unterlassung und Beweislastumkehr angeschaut werden müssen. Wir haben das noch nicht erfüllt, aber ich sehe Politik nicht als Zerschlagen dicker Bretter, sondern als das Bohren dicker Bretter. Die Arbeitslosigkeit sehe ich als einen Bereich, wo in den vergangenen Jahren zwar sehr viel Geld aufgewendet wurde, wo sich aber die Beschäftigungssituation von behinderten Menschen nicht verbessert hat. Es ist wichtig, viele Begleitmaßnahmen zu finden - für behinderte Menschen und auch für Unternehmen. Da wird schon an der Umsetzung gearbeitet. Ein großer Kritikpunkt ist die Frage der Behindertenanwaltschaft. Es liegt nicht auf den Tisch, was dieser Anwalt getan hat.

Haidlymayr: Den so genannten Behindertenbericht, den Sie fordern, den gibt es regelmäßig. Auch gibt es eine Berichtspflicht des Behindertenanwaltes. Es ärgert mich, dass man Dinge, die eh gut funktioniert haben, ins Regierungsabkommen reinschreibt. Aber wesentliche Dinge tut man nicht. Warum stimmt man dem Initiativantrag nicht mehr zu? Das ist eine elendige Verlogenheit. Damit haben Sie sich ein riesiges Problem eingehandelt.

Lapp: Ich kann das so nicht im Raum stehen lassen. Wir sind in einem Regierungsabkommen gebunden und haben Verbesserungen weitergebracht. Dass hier unterstellt wird, wir würden einmal so und einmal so handeln, das ist kurzsichtig formuliert.

Die Furche: Herr Huainigg, Sie haben eine Liste mit Erfolgen in der Behindertenpolitik erstellt. Wie sehen Sie das Gesetz von 2006?

Huainigg: Sicher würde man sich wünschen, dass von heute auf morgen mit einem Fingerschnipp alle Barrieren beseitigt sind. Ein Gesetz hat jedoch gewisse Einschränkungen. Aber es wirkt sehr wohl. Die Schlichtungsverfahren wirken sehr gut. Zwei Drittel betreffen den arbeitsrechtliche Bereich, ein Drittel die Gleichstellung behinderter Menschen. Ein Großteil der Verfahren verläuft positiv. Seit 1. Jänner gibt es die Möglichkeit zu einem Gerichtsverfahren. Man wird schauen müssen, wie das funktioniert. Wir werden evaluieren, wie das Gleichstellungsgesetz greift und dann wollen wir es auch weiterentwickeln.

Die Furche: Wie soll Ihrer Meinung nach das Parlament umgebaut werden? Der Zweite Nationalratspräsident, Ihr Parteikollege Michael Spindelegger, nennt die barrierefreie Variante ja einen Luxus, wie Frau Haidlmayr kritisierte …

Huainigg: Die Kollegin Haidlmayr hat dem Kollegen Spindelegger ein Schlichtungsverfahren angedroht. Das ist eine Möglichkeit, Barrierefreiheit einzufordern. Ich glaube, dass diese Diskussion etwas überzogen ist. Ich stehe dazu, dass nicht unbedingt die teuerste Variante die im Sinne der Barrierefreiheit beste sein muss. Die ÖVP wird nicht verhindern, dass ihr Abgeordneter zum Rednerpult kommen kann. Es stimmt zudem nicht, dass während der Übergangsfristen von zehn Jahren nichts passiert. Es war mir immer wichtig, dass in diesen zehn Jahren weiter barrierefrei umgebaut wird. Das Problem bei den baulichen Barrieren ist, dass es Länderkompetenz betrifft. Es ist ein wichtiges Anliegen, dass es zu einer Harmonisierung kommt.

Die Furche: Es gab kürzlich eine Tagung in Wien (siehe Artikel Seite 23 unten) mit dem Titel "Vom schönen Schein der Integration", bei der die Frage diskutiert wurde, ob Behinderte in der Leistungsgesellschaft mithalten können oder überhaupt sollen?

Huainigg: Sehr viele behinderte Menschen wollen Teil der Leistungsgesellschaft sein, sie wollen eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt. Oft wird ihnen das nicht zugetraut. Es ist wichtig, dass sie selbst Geld verdienen und kein Taschengeld bekommen; dass ihre Arbeit anerkannt und nicht als Therapie gesehen wird.

Lapp: "Vom schönen Schein …" - das ist eben ein Titel, der aufrütteln soll. Wir müssen uns noch zu mehr Integration hinbewegen. Aber die Kinder, die jetzt in den Integrationsklassen sind, die werden uns einmal beweisen, dass Integration lebbar und schaffbar ist.

Haidlmayr: Es geht nicht dar-

um, ob behindert oder nicht. Es gibt auch andere Menschen, die in der Leistungsgesellschaft nicht mithalten können und wollen. Mir gehen solche Diskussionen schon so auf die Nerven. Schon seit 40 Jahre höre ich das. Das Ziel muss sein, dass man von Integration nicht mehr reden muss. Wenn ich niemanden aussondere, dann brauche ich niemanden zu integrieren. Man geht immer noch den Weg, dass man Leute aus der Gesellschaft herausreißt, sie irgendwo Jahrzehnte lang sonderbehandelt und dann sagt man, es sei so schwer, sie wieder in die Gesellschaft zurückzubringen, und das koste so viel und da müsse man hunderte Maßnahmen setzen.

Die Furche: Sind Sie mit Regierungsabkommen in punkto Behindertengleichstellung zufrieden?

Huainigg: Das sind Ziele; wenn das alles umgesetzt wird, ist das für behinderte Menschen sehr positiv. Wir haben zum Beispiel für den Arbeitsmarkt das Konzept "Disability Flexicurity", wo versucht wird, über Leiharbeit behinderte Menschen an den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Die Beschäftigungsoffensive soll weitergeführt werden. Die Schulintegration soll ausgebaut, das Gleichstellungsgesetz weiter entwickelt werden. Die Absicherung der Pflege soll passieren. Das sind natürlich Zielbestimmungen, die mit Experten und Betroffenen umgesetzt werden sollen.

Lapp: Ich sehe das wie Kollege Huainigg. Wir haben uns Ziele vereinbart, jetzt gilt es, diese Ziele Schritt für Schritt umzusetzen. Wir haben ein sehr gutes Programm vorgelegt, und gemessen werden wir an den Taten.

Haidlmayr: Es muss ganz wo anders beginnen: Ich versehe nicht, warum es immer heißt, man muss die anderen für uns sensibilisieren. Wenn ein Unternehmen die Behinderteneinstellung nicht erfüllt, dann wird das entsprechend bestraft. Diskriminierung und Aussonderung sollen als Delikt bestraft werden.

Die Furche: Das heißt, Sie fordern einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik?

Haidlmayr: Ja, wenn ich keine Menschen mehr aussondere, dann muss ich hinterher nicht den schwierigen Weg der Integration gehen. Wenn heute ein behindertes Kind in einen ganz normalen Kindergarten geht, und eines dieser Kinder wird einmal Personalchef, dann fällt dieser nicht vom Sessel, wenn ein behinderter Mensch sich vorstellen kommt. Dann ist das für den ganz normal.

Lapp: Dieses Modell, das Kollegin Haidlmayr vertritt, dass behinderte Menschen ausgesondert werden, das ist schon sehr überholt, wir sind doch schon viel weiter. Die Kinder sind heute gemeinsam an Schulen und Universitäten. Wir müssen da schauen, wo braucht es noch mehr Strukturen. Zum Beispiel für gehörlose Studierende. Es gibt zu wenige Gebärdensprachendolmetscher. Es geht darum, die Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Die Furche: Aber im ersten Arbeitsmarkt können behinderte Menschen nur schwer Fuß fassen …

Lapp: Es gibt Maßnahmen, sie liegen auf dem Tisch, trotzdem ist die Arbeitslosigkeit nicht gesunken, obwohl eine Vielzahl von Projekte initiiert wurden. Die Evaluierung der Beschäftigungsoffensive ist uns ein großes Anliegen. Hier gibt es eine Vielzahl von Maßnahmen, die man weiterverfolgen muss, aber nicht mit der Keulen-Methode, so findet Politik nicht statt.

Haidlmayr: Die Aussonderung ist weiter fortgeschritten, das kann man nachlesen. Die Heimplätze sind in den letzten 20 Jahren gestiegen, auch die Plätze der Beschäftigungstherapie auf Taschengeld-Basis sind weiter gestiegen. Und mit 80 Prozent der so genannten Behindertenmilliarde wurden Arbeitsplätze für nicht-behinderte Menschen geschaffen.

Huainigg: Der Paradigmenwechsel, der findet ja schon statt; weg von Aussonderung hin zu Integration; weg von Mitleid hin zu Gleichstellung. Ich sehe auch die Beschäftigungsoffensive durchaus positiv. Es gibt zahlreiche Förderungen. Ein besonders positives Modell ist die Assistenz am Arbeitsmarkt, das auch weiter entwickelt wird. Die gleichen Chancen müssen aber schon vor und bei der Geburt gelten. Es gibt in Österreich immer noch die eugenische Indikation. Wenn allein der Verdacht besteht, dass der Fötus behindert ist, kann er bis zur Geburt abgetrieben werden. Das ist vor allem nach der 20. Schwangerschaftswoche, wo der Fötus überlebensfähig ist, unerträglich. Das sollte nicht mehr möglich sein. Ich fordere die Streichung der eugenische Indikation. Spätabtreibungen sollten in Österreich verboten sein. Die Beratung soll nicht defizitorientiert sein, sondern es sollen objektiv die Möglichkeit und Perspektiven aufzeigt werden, die man als behinderter Mensch in der Gesellschaft hat.

Lapp: Es ist kein Zwang, dass die eugenische Indikation gemacht werden muss. Allerdings kenne ich Fälle, wo das Kind ohne Schädeldecke im Mutterleib ist; das ist dann eine große Herausforderung. Ich habe immer Angst, wenn die Diskussion mit der Spätabtreibung beginnt, dass sich da nicht Abtreibungsgegner dahinter verstecken. Mir es wichtig, dass dieses Thema einmal in einer Enquete diskutiert wird. Elternberatung und der Ausbau der Frühförderung würde ich als sehr wesentliche Aspekte sehen.

Haidlmayr: Du, Franz-Joseph, hast schon 2002 versprochen, einen Antrag einzubringen, um die eugenische Indikation zu streichen. Ihr seid Regierungspartei, ihr könnt das umsetzen. Ich will keine Abtreibungsdebatte, sondern nur die Streichung des Halbsatzes (der eine mögliche Behinderung als Abbruchgrund festlegt, Anm.).

Huainigg: Ich kenne auch keinen Antrag der Grünen. Wir brauchen in dieser heiklen Frage einen Konsens innerhalb der Partei und Unterstützung der anderen Parteien, sonst heißt es gleich, wir wollten die Fristenlösung abschaffen. Es wird eine Enquete geben, in der dieses Thema besprochen wird.

Haidlmayr: Ich stehe dazu, dass es in meiner Fraktion ähnlich wie in deiner keine einheitliche Meinung zu diesem Thema gibt. Bringe bitte diesen Antrag ein, der kann dann als Diskussionsgrundlage dienen.

Das Gespräch moderierte Regine Bogensberger

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