Von Macht und Elend der Politik

Werbung
Werbung
Werbung

Im engen Freundeskreis haben wir uns kürzlich selbstkritisch gefragt, welche Schwächen jeder von uns bekämpfen sollte. Meine Liste war nicht gerade kurz -und doch unvollständig. Vergessen hatte ich u. a. meine Neigung, Türme alter Zeitschriften über Jahre hinweg zu horten, "zum Nachlesen, irgendwann".

Dieser Tage habe ich mich in einen solchen Stoß verirrt. Es wurde ein Tauchgang in tiefe politische und mediale Ratlosigkeit. Nachgelesen habe ich den Leitartikel einer angesehenen Zeitschrift zum Amtsantritt von Barack Obama im Winter 2009. Von einer "Verzauberung der Welt" durch den neuen "Bürgerkönig der USA" war da die Rede. Auch von Tugenden und Talenten, für die "Amerikas Geschichte kein Beispiel kennt". Unter seiner Führung könnte Amerika das Unmögliche schaffen: könnte in neuer Bescheidenheit zu "historischer Größe" wachsen. Als "charismatischer Versöhner" werde er Brücken nach überallhin bauen, vor allem nach Europa. Denn Obama suche Verbündete, "die einander vertrauen und zuhören".

Vielleicht war es dieser Widerspruch zwischen Zuhören und Abhören, Traum und Wirklichkeit, der mich so nachdenklich gemacht hat. Nein, nicht über den Weitblick der Medien. Auch nicht über den wahren Barack Obama. Eher hat mich die alte Frage beschäftigt, warum es das Gute so schwer hat, die Oberhand zu behalten. Selbst dann, wenn einer so vernünftig und tolerant, ja weise zu sein scheint.

Wie konnte, um einen Lessing-Forscher zu zitieren, aus einem "Nathan" ein "Sultan Saladin" werden? Aus einem "Freund aller Nationen" der mächtigste Spitzel aller Zeiten; der Befehlshaber ungezählter, todbringender Fernlenk-Drohnen? Und warum muss einer das Lager Guantánamo in Betrieb halten, dessen Sperre er einst fix versprochen hatte?

Herzlichen Glückwunsch, Alois Mock!

Verändert die Macht den Charakter? Mag sein. Weit eher aber gilt das Umgekehrte: dass der Charakter kaum imstande ist, die Mechanik der Macht zu verändern. Wer heute verzaubert, kann morgen scheitern oder schuldig werden. Und umgekehrt.

Kein anderes Land kann der Last der Erwartungen so schwer gerecht werden wie Amerika. Nirgendwo sonst ist die Kluft zwischen Moral und Machtinteressen ähnlich groß -und ein Scheitern so immanent.

Aber kämpft letztlich nicht jede - selbst die heimische -Politik mit ähnlichen Verkettungen von Sachzwängen, Gruppeninteressen, medialen Verlockungen usw. wie der große, ferne Bruder? Über viele Jahre hinweg habe ich im rotweißroten Biotop enorm viel an persönlichem Anstand, gutem Willen und Arbeitseifer beobachtet. Nur wenig davon hat letztlich über Erfolg oder Scheitern des jeweiligen Amtsträgers entschieden. "Hosianna" und "Crucifige" liegen nirgends sonst so eng beieinander wie in der Politik.

Übrigens: Einer, der davon ein Lied singen könnte, hat an diesem Dienstag seinen 80er gefeiert. Herzlichen Glückwunsch, Alois Mock!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung