Von richtigen und anderen Südafrikanern

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Geboren in Kapstadt, aufgewachsen in der südafrikanischen Provinz, lebt der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee heute in Australien. Rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag am 9. Februar erscheinen seine drei autobiografischen Prosatexte überarbeitet als Sammelband.

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Geboren in Kapstadt, aufgewachsen in der südafrikanischen Provinz, lebt der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee heute in Australien. Rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag am 9. Februar erscheinen seine drei autobiografischen Prosatexte überarbeitet als Sammelband.

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Eine Vorortsiedlung in Worcester, Südafrika. Ameisen, Fliegen und Flöhe bevölkern Straßen und Menschen und feiner ockerfarbener Staub dringt durch die Türen. Die Mutter, die mit dem Fahrrad fährt, wird zum Gespött des Vaters, bis das Fahrrad eines Tages wieder verschwindet. Der Bub spielt den Musterschüler, um in der Schule bloß nicht die Schande zu erleben, geprügelt zu werden.

Keine unschuldige Freude

"Die Kindheit, steht in der Enzyklopädie für Kinder, ist eine Zeit der unschuldigen Freude, die man in den Wiesen zwischen Butterblumen und Häschen verbringt oder am Kamin, in ein Märchenbuch vertieft. Das ist eine Sicht auf die Kindheit, die ihm völlig fremd ist. Nichts was er in Worcester, zu Hause oder in der Schule, erlebt, bringt ihn auf den Gedanken, dass die Kindheit etwas anderes ist als eine Zeit, in der man die Zähne zusammenbeißen und durchhalten muss." Was J. M. Coetzee in seinem 1997 erschienenen Buch "Boyhood. Scenes from Provincial Life"(auf Deutsch: "Der Junge. Eine afrikanische Kindheit") schreibt, wird in vielen Romanen erzählt: dass Kindheit nämlich kein Paradies ist. Widersprüchliche Gefühle und die Zerrissenheit von Heranwachsenden können zu vielen Zeiten und an vielen Orten so ähnlich aussehen, wenngleich sie nicht immer so gekonnt in Sprache gebracht werden wie in Coetzees Prosa.

Im Heimatland des Literaturnobelpreisträgers, der 1940 in Kapstadt geboren wurde, kommen freilich spezielle Erfahrungen dazu, vor allem von Zuordnungen und Ausgrenzungen. Sie führen zu Geheimnissen und Fälschungen, von denen Coetzee in "Boyhood" auch erzählt. In der Schule nach seiner Religion gefragt, bezeichnet sich der Bub zum Beispiel spontan als römischkatholisch - er denkt an Rom und Horatius, um später zu bemerken, mit Rom und Horatius hat der Katholizismus nicht viel zu tun, statt dessen mit Katechismus an Freitag Nachmittagen, mit Beichte und Kommunion. Ab nun wird er, während sich die evangelischen Gleichaltrigen in die Andacht begeben, die Zeit mit seinen jüdischen Freunden verbringen - und mit ihnen als Jude beschimpft werden. Und er wird fürchten, seine Familie könnte davon erfahren, dass er nun römisch-katholisch ist.

Niemand von den Coetzees geht in die Kirche, die Familie "ist" nichts. "Sie sind natürlich Südafrikaner, doch das Südafrikanertum ist ein wenig peinlich, und man spricht deshalb nicht darüber, weil nicht jeder, der in Südafrika lebt, Südafrikaner ist, jedenfalls kein richtiger Südafrikaner." Es gibt ja nicht nur Katholische und Evangelische und Juden, sondern auch Buren und Engländer, vor allem aber: die Weißen, die Farbigen und die Schwarzen -und zwar in genau dieser Rangordnung.

Es gibt Zuordnungen, merkt der Bub bald, die offiziell gewünscht sind, und Zugehörigkeiten, die besser unausgesprochen bleiben. Dass er die Russen mehr mag als die Amerikaner, darf er niemandem sagen: "Russenfreundlichkeit ist eine ernste Sache. Sie kann dazu führen, dass man geächtet wird. Man kann dafür ins Gefängnis kommen." Wo will er dazugehören, fragt sich der Bub, und träumt einerseits von der Farm der Familie seiner Mutter, die er nie sein Eigen nennen können wird, die ihm aber ein Ort der Freiheit und Sehnsucht bleibt. Andererseits mag er die Engländer lieber als die Buren. Die Gerüchte, dass alle Schüler mit Afrikaans-Familiennamen in Afrikaanerklassen versetzt werden sollen, dass "falsche englische Jungen" aus den englischen Klassen entfernt werden sollen, versetzen den Buben in Panik. Dass seine verehrten Engländer nicht immer nur nobel agieren, erfährt er jedoch auch bald mit eigenen Augen.

Jahre in London

Der literarischen Kindheits-Autobiografie "Boyhood" folgte mit "Youth"(2002, "Die jungen Jahre", in der überarbeiteten Version nun "Die frühen Jahre")- ebenfalls in dritter Person erzählt -das Porträt eines Künstlers als junger Mann in London. Nach Studentenjahren in Kapstadt entgeht er dem Militärdienst in Südafrika, indem er nach London zieht, wo er als Programmierer arbeitet.

Fühlte er sich in Südafrika den Engländern zugehörig, ist er nun ein Bure aus der Provinz. Als sehr sympathisch wird dieser junge Mann nicht dargestellt, die Kälte gegenüber seiner eigenen fürsorglichen Mutter deutet sich schon in "Boyhood" an. Erste Versuche zu schreiben fallen in diese Zeit und vor allem die Entdeckung der Werke jenes Autors, der ihn prägen wird: Samuel Beckett.

Mit "Summertime" (2009, "Sommer des Lebens") wechselt Coetzee in die siebziger Jahre. John Coetzee kehrt als Literaturwissenschafter aus den USA nach Südafrika zurück, wo mit "Dusklands" (1974) seine Karriere als Schriftsteller beginnt. Der Heimkehrer, ein arbeitsloser Intellektueller, legt selbst Hand an, sein Haus trockenzulegen, und übernimmt so "die eigene schmutzige Arbeit": Das hätten "Leute seinesgleichen seit 1652 tun sollen".

Die Frage, ob John Coetzee nun ein "echter Afrikaaner" ist oder nicht, lässt der Autor in diesem Text durch die Figuren diskutieren: Dieser Lebensabschnitt wird nämlich unter anderem durch Gespräche erzählt, ein Biograf hat sie mit Personen geführt, die John Coetzee gekannt haben. Coetzees Leben formt sich so aus unterschiedlichen Perspektiven, wird zu einer Konstruktion von anderen -und mit dieser raffinierten Erzählweise macht Coetzee noch deutlicher, wie fragwürdig die Vorstellung ist, es wäre möglich, die "Wahrheit" zu erzählen, und sei es die des eigenen Lebens.

Szenen aus einem Provinzleben

Der Junge; Die frühen Jahre; Sommer des Lebens. Von J. M. Coetzee. Übers. von R. Böhnke S. Fischer 2015 638 S., kart., € 13,40

John M. Coetzee

Geb. am 9.2.1940 in Kapstadt, Kindheit und Studium in Südafrika. Nach Stationen in London und in den USA Literaturprofessor in Kapstadt von 1972-2002. Seit 2002 lebt Coetzee in Adelaide, Australien. 2003 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

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