Von Staffel zu Staffel FASZINATION

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Dank qualitativ hochwertiger US-Serien ist das Fernsehen längst nicht mehr der kleine Bruder des Kinos. Der deutsche Sprachraum hat hingegen Aufholbedarf.

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Dank qualitativ hochwertiger US-Serien ist das Fernsehen längst nicht mehr der kleine Bruder des Kinos. Der deutsche Sprachraum hat hingegen Aufholbedarf.

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Tyrion Lennister hat einen zu großen Kopf, zu kurze Arme und Beine und ist nur 1,35 Meter groß gewachsen. Die meisten Menschen nennen ihn verächtlich Gnom, Zwerg oder Halbmann. Sein Vater, seine Schwester und sein Neffe hassen ihn, ja trachten ihm nach dem Leben, und lassen keine Gelegenheit aus, ihn zu demütigen. Doch sein scharfer Geist, sein soziales Geschick und seine spitze Zunge lassen ihn alle Unbill unbeschadet überstehen. Er säuft, er hurt und er ist nie um eine zynische Bemerkung verlegen - und doch ist er in seiner sozialen Umgebung einer der wenigen, der so etwas wie Anstand besitzt, der auch uneigennützig und zum Wohl der Gemeinschaft handelt. Tyrion Lennister, verkörpert von dem kleinwüchsigen Schauspieler Peter Dinklage, ist eine der zentralen Figuren der TV-Serie "Game of Thrones", deren vierte Staffel gerade im deutschsprachigen Free-TV gelaufen ist.

"Game of Thrones" gehört zum Besten, was das Fernsehen gegenwärtig zu bieten hat. In dem an Brutalität und Sex nicht armen Fantasy-Epos kämpft eine ganze Reihe von differenziert gezeichneten Charakteren ums Überleben in einer rauen Welt. Die Serie spielt zwar in einem Fantasieland namens Westeros in einer Art Mittelalter, es tauchen Drachen, Magie und nicht-menschliche Geschöpfe auf, doch die Figuren sind "Menschen wie wir", mit all ihren Träumen, Hoffnungen, Schwächen und Fehlern, die sich in langen Dialogen und komplexen Handlungssträngen nach und nach offenbaren.

Es ist beschämend und bezeichnend zugleich, dass diese Serie nicht im ORF zu empfangen war, auch nicht in den deutschen öffentlich-rechtlichen Programmen, sondern auf dem privaten Billig-Sender RTL II. In unseren Breiten haben die von ihrem Anspruch her für Qualität zuständigen Sender das, was mittlerweile als Goldenes Zeitalter des Fernsehens abgefeiert wird, beinahe komplett verschlafen, und das über viele Jahre. Denn das Phänomen der aufwändig produzierten, hochintelligenten und psychologisch ausgefeilten TV-Serien ist nun wirklich alles andere als neu. Es ist sogar schon so alt, dass bereits ein Rückblick in Buchform erschienen ist.

"Die Revolution war im Fernsehen" lautet der Titel eines Buches, das kürzlich auf Deutsch erschienen ist. Der renommierte amerikanische TV-Kritiker und Blogger Alan Sepinwall blickt darin mit Begeisterung auf die ersten 15 Jahre des Goldenen Fernseh-Zeitalters zurück, das kurz vor der Jahrtausendwende damit begann, dass auf dem Kabelsender HBO der Mafia-Boss Tony Soprano die Praxis einer Psychiaterin betrat. Die vielfach preisgekrönte Serie "Die Sopranos"(1999-2007) war die erste dieser neuen Serien, die mittlerweile als das gelten, was die großen Romane im 19. und 20. Jahrhundert waren. Es folgten Serien wie "Six Feet Under" (2001-2005),"The Wire" (2002-2008),"Breaking Bad" (2008-2013) und die noch immer nicht abgeschlossenen Werke "Mad Men"(seit 2007),"The Walking Dead"(seit 2010) sowie das schon genannte "Game of Thrones"(seit 2011)."Wir hatten uns das Fernsehen seit Jahren nachts in unsere Wohnzimmer geholt, doch plötzlich hatten wir einen Grund, es auch am Morgen danach zu respektieren", beschreibt Sepinwall sein Gefühl, als sich "Die Sopranos" nicht als glücklicher Einzelfall erwies, sondern fortan den Standard für gute TV-Serien darstellte.

Meisterhafte Erzählungen

Ein Merkmal dieser Serien ist, dass die Figuren nicht mehr eindeutig in "gut" und "böse" zu kategorisieren sind. Es gibt keine Helden, es gibt niemanden, mit dem man sich zu 100 Prozent identifizieren könnte. Jeder der Hauptfiguren hat seine dunklen, gefährlichen, abstoßenden Seiten, die einen mehr, die anderen weniger. Sogar der größte Bösewicht kann in einzelnen Situationen derjenige sein, der richtig liegt oder sich moralisch integer verhält. Und wenn sich die Konflikte immer mehr aufschaukeln und schließlich - oft in brutaler Gewalt -eskalieren, dann ist es meist das Böse, das die Oberhand behält. Das Ganze ist jedoch so meisterhaft erzählt, dass sich die Zuschauer nicht frustriert oder empört abwenden, sondern bis zum Ende fasziniert zusehen. Auf die Spitze wurde dies in "Breaking Bad" getrieben. Über fünf Staffeln verfolgte das Publikum die Geschichte von Walter White, der sich von einem bemitleidenswerten krebskranken Chemielehrer zu einem eiskalten Drogenboss entwickelt. Serien sind aber mehr als bloß exzellent erzählte Geschichten mit vielschichtigen Figuren. "The Wire" etwa beschreibt das Sterben der amerikanischen Großstädte, "Mad Men" schildert die Emanzipation der Frauen, der Jugend sowie der Minderheiten in den USA der 1960er-Jahre. Auch wenn die Serien im Gangstermilieu oder in einer Fantasy-Welt spielen, so handeln sie doch immer von der Gesellschaft der Gegenwart.

Traum der Drehbuchautoren

In Gestalt dieser Serien ist das Fernsehen aus dem Schatten des Kinos getreten. Was Filme anbelangt, war das Fernsehen immer der kleine, schmuddelige Bruder des Kinos. Das hat sich mittlerweile umgekehrt. Für einen Drehbuchautor ist nicht mehr Hollywood das höchste der Gefühle, sondern eine Serie, in der er endlich alle jene Geschichten erzählen kann, die im Blockbuster-Kino der Gegenwart keinen Platz haben. Während früher der Gang von Hollywood ins Fernsehen als Abstieg betrachtet wurde, übernehmen heute erstklassige Filmschauspieler liebend gern Rollen in Serien -man denke nur an Steve Buscemi ("Boardwalk Empire"), Claire Danes ("Homeland") oder Kevin Spacey ("House of Cards"). Selbst gute, künstlerisch anspruchsvolle Kinofilme können nicht mit einer guten TV-Serie mithalten: Ein Film ist nach 100 Minuten vorbei, einer Serie steht ein Vielfaches dieser Zeit zur Verfügung, ihre Charaktere zu entwickeln.

Auch wenn bislang nur von US-Produktionen die Rede war: Serien vergleichbarer Qualität gibt es auch in Europa. Die britische Serie "Downton Abbey" erzählt anhand einer Adelsfamilie und ihrem Personal von den großen politischen, gesellschaftlichen und technischen Umwälzungen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die dänische Serie "Borgen" handelt von Intrigen und Machtspielen in der Politik und dem zwiespältigen Einfluss der Presse. Die schwedische Science-Fiction-Serie "Real Humans" stellt die grundsätzliche Frage, was einen Menschen ausmacht, und führt vor Augen, welche Auswirkungen die Etablierung künstlicher Intelligenz auf die menschliche Gesellschaft hätte.

Jahrelange Verspätung

In einem Land allerdings hat die Revolution nicht stattgefunden: Deutschland. Mit "Der Tatortreiniger" gelang den Deutschen lediglich eine Serie, die international mithalten kann - und die wurde vom NDR in die Nachtstunden verräumt. Auch der ORF hat sich in Bezug auf den Serienboom nicht mit Ruhm bekleckert. "Die Sopranos" und "Six Feet Under" wurden zu nachtschlafender Zeit gezeigt und nach den ersten Staffeln abgesetzt, "Breaking Bad" wurde mit jahrelanger Verspätung gezeigt, immerhin zur Gänze. Und bislang ist es dem heimischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht gelungen, eine Serie zu produzieren, die an die großen US-Serien heranreicht. Der laufende Versuch "Vorstadtweiber" ist ja ganz nett, aber den Figuren fehlt die notwendige Tiefe, der Geschichte das Epische. Am ehesten erreichte "Braunschlag" das international geforderte Niveau: Immerhin plant der amerikanische Sender Fox ein US-Remake der Serie. Das Manko von "Braunschlag" jedoch war der österreichische Hang zur übersteigerten Groteske. Denn die großen Serien der Gegenwart sind trotz allen schwarzen Humors von großer Ernsthaftigkeit getragen.

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