Von Vielem, was dein Wesen ist

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Das neue Stück "europa flieht nach europa" von Miroslava Svolikova feierte seine Österreich-Premiere im Kasino am Schwarzenbergplatz: ironisch, hintersinnig, meist klug und fast immer vergnüglich.

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Das neue Stück "europa flieht nach europa" von Miroslava Svolikova feierte seine Österreich-Premiere im Kasino am Schwarzenbergplatz: ironisch, hintersinnig, meist klug und fast immer vergnüglich.

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Seit zwei Jahrzehnten finden im Juni am Thalia Theater Hamburg oder am Deutschen Theater Berlin alljährlich die Autorentheatertage statt. Die Veranstaltung ist eine besondere Form der Förderung von Dramatikerinnen und Dramatikern. Aus den eingereichten Beiträgen wählt eine Jury jeweils drei aus, die als Preis zur Uraufführung gebracht und in der "langen Nacht der Autor*innen" der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Zum zweiten Mal in ihrer noch jungen Karriere wurde aus heuer 147 Einsendungen ein Stück der Wiener Autorin Miroslava Svolikova (geb. 1986) mit dieser Auszeichnung bedacht. Nun ist das vom Burgtheater produzierte Stück mit dem etwas paradox anmutenden Titel "europa flieht nach europa" auch in Wien im Kasino am Schwarzenbergplatz zu sehen.

"Nicht knien vor dem goldenen kalb"

Svolikovas drittes Theaterstück - nach "die hockenden" (2015 mit dem Retzhofer Dramapreis ausgezeichnet und im Vestibül zu sehen) sowie "Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt"(2017 am Schauspielhaus Wien) - ist ein "dramatisches Gedicht in mehreren Tableaus", das sich auf ironisch hintersinnige, meist kluge und fast immer vergnügliche Weise (und das ist nicht zuletzt das Verdienst von Regisseur Franz-Xaver Mayr) mit dem Zustand von Europa beschäftigt. Der Titel klingt gleich verständlicher, wenn man weiß, dass es sich bei der nach Europa fliehenden Europa um die gleichnamige Figur aus der griechischen Mythologie handelt.

Europa wird von der großartigen, für ihr komisches Talent bekannten Burg-Schauspielerin Dorothee Hartinger gespielt. Im schulterfreien rosa Abendkleid steht sie auf der schemenhaft eine antike Tempelanlage andeutenden Bühne und erzählt, einen blutenden Klumpen Fleisch in Händen, zunächst mit dem getragenen Pathos der großen Tragödin vom Schicksal jener Figur. Wie sie vom liebestollen Zeus in Gestalt eines Stiers entführt wurde und dann -ja, alles anders kam: Sie ändert jäh den Ton und wird zur selbstbewussten, modernen Frau, die davon erzählt, wie sie zur Gründerin eines neuen Landes wurde. Zuerst hat sie den Stier mit einer Spitze aus ihrem Haar erstochen, um danach einen Kontinent zu gründen, einen "ort, der nicht aufbaut auf dem recht des stärkeren, auf dem prinzip, dass man sich nimmt, was man will". Sie will einen Kontinent erschaffen "der freien und freundlichen menschen", es soll keine Ausbeutung geben, und keine Unterschiede und keine Armen und Hungernden, kein Kapital. "Wir werden nicht knien vor dem goldenen kalb." Sogleich aber fügt sie resignierend hinzu, "heute abend trage ich zwei gesichter, vorne die idee und hinten die realität".

Konterkariert und dekonstruiert

Denn in dieser Idee Europas erweisen sich die Menschenkinder als seine Realität: "ich bin schon auseinandergefallen in euch. vielleicht ist meine zeit schon gewesen", sagt sie einmal. Was sich in der folgenden, meist kurzweiligen Stunde auf der Bühne ereignet, ist eine deftige, ironische, karnevaleske Nummernrevue durch die (Verfalls-)Geschichte Europas, in deren Verlauf die edle Idee vom Land der Freiheit, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit Stück für Stück konterkariert und dekonstruiert wird.

Regisseur Franz-Xaver Mayr setzt auf Parodie und Übertreibung und betont vor allem die komischen Momente des manchmal sprachverliebten Textes, wobei er auf ein fabelhaftes junges Ensemble des Burgtheaters bauen kann, dem er Artikulationsvirtuosität und Gesangskünste gleichsam abverlangt.

Valentin Postlmayr mimt den muskelbepackten, absolutistischen König, der sich zuerst stotternd dann diebisch darüber freut, dass die Gerechtigkeit für alle noch ein paar Zeitenwenden auf sich warten lässt, bevor er gemeinsam mit Sven Dolinski als armen Bauern mit unterwürfiger Fistelstimme vom Karneval des Lebens und dem gottgewollten Sinn der Ungleichheit plappert. Alina Fritsch preist als Gelehrter schließlich die Eigenverantwortung des Individuums und wenig später konterkariert sie als "Conquistador" die Gewaltgeschichte der europäischen Landnahme: "ich möchte liebe verbreiten mit meinem schwert".

Von da ist es nicht weit zur Flüchtlingskrise, deren Verlauf zu einer fabelhaften Szene komprimiert wird: von "ich habe platz für jeden unter meinem rock", wobei Europa/Hartinger sich am Boden windet und dabei ihr Kleid umstülpt, das übersät ist mit milchgebenden Zitzen, bis zu "es ist zuviel" und "jeder muss selber schauen, wo er sie es bleibt" bis "aufhören! hilfe! vergewaltigung" nur wenige Augenblicke vergehen. Am Ende dieses virtuosen Abends stirbt Europa, dennoch intonieren die Kinder "wir hören nicht auf, bis die welt eine richtige welt ist".

europa flieht nach europa Kasino am Schwarzenbergplatz, 14., 15. Oktober

Virtuoses Ensemble

Dorothee Hartinger mit Sven Dolinski, Alina Fritsch, Valentin Postlmayr, Marta Kizyma und Marie-Luise Stockinger in "europa flieht nach europa" im Kasino am Schwarzenbergplatz.

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