Vor Gericht bleibt Halbwissen über

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Die Sozialwissenschafterin Veronika Hofinger (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie) über das Verhältnis von Kriminalität, Rechtssprechung und Neurobiologie.

Die Furche: Was spricht gegen ein "Neuronenrecht“?

Veronika Hofinger: Die Wissenschaft ist weit davon entfernt, eindeutige Antworten geben zu können. Ich habe die wissenschaftliche Debatte der letzten zehn Jahre in den Fachmagazinen untersucht. Auch innerhalb der Neurowissenschaft gibt es viele kritische Stimmen, die zur Vorsicht mahnen und betonen, dass die Forschung erst ganz am Anfang steht. Andererseits findet man Autoren, die aus methodisch zumindest fragwürdigen Studien weitreichende Schlüsse ziehen. Oft ist die Stichprobe untersuchter Personen sehr klein oder die Ergebnisse können von anderen Wissenschaftlern nicht bestätigt werden. Ich will nicht behaupten, dass alles in diesem Bereich Humbug ist. Das Problem ist eher, dass neurowissenschaftliches Wissen vor Gericht vereinfacht dargestellt werden muss. Da bleibt dann oft Halbwissen übrig. Der Fall in Italien zum Beispiel wurde nicht nach aktuellen wissenschaftlichen Standards entschieden.

Die Furche: Braucht die Neurowissenschaft Zeit, bis ihre Erkenntnisse aussagekräftig sind?

Hofinger: Nein, denn es gibt noch grundlegendere Probleme. Kriminelles Verhalten ist vielfältig. Oft wird es vereinfacht als pathologisches Verhalten betrachtet. Aber nicht jeder Verbrecher ist ein Psychopath. Es ist unbestritten, dass Definitionen eine Rolle dabei spielen, was als kriminell gilt. Genauso die Umwelt und soziale Einflüsse. Wer in einer gewalttätigen Umgebung aufwächst, neigt vielleicht eher dazu, Konflikte mit Gewalt auszutragen. Es wird oft so getan, als wäre das eine messbare Eigenschaft der Person. Ob jemand "antisozial“ ist, lässt sich nicht bestimmen ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang zu betrachten.

Die Furche: Neurowissenschaft als Ergänzung anderer Gutachten?

Hofinger: Wo soll die Intervention ansetzen? Am Gen, am Gehirn oder bei den sozio-ökonomischen Verhältnissen? Es besteht die Gefahr, dass man im Einzelfall eingreift, aber den gesellschaftlichen Rahmen unangetastet lässt. Die Debatte findet ja vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen für Sozialausgaben statt. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse begünstigen die sozialtechnokratische Vorstellung, dass man nur ins Gehirn einer Person schauen muss, um ihre potentielle Gefährlichkeit herauszufinden. Die Ursachen von Kriminalität werden dabei nicht berücksichtigt. Das harmoniert sehr gut mit dem Sicherheitsdenken moderner Kontrollgesellschaften. Man muss aber feststellen, dass neurowissenschaftliche Erkenntnisse in der gerichtlichen Praxis derzeit erst eine sehr geringe Rolle spielen. Im österreichischen Maßnahmenvollzug beispielsweise werden weder genetische Tests noch bildgebende Verfahren für Gefährlichkeitsprognosen benutzt.

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