Wär' ich nur in Belgrad!

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Theater beim steirischen Herbst: "Der Sturz" von Biljana Srbljanovic und "Gier" von Sarah Kane.

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Theater beim steirischen Herbst: "Der Sturz" von Biljana Srbljanovic und "Gier" von Sarah Kane.

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Es gibt ein fernes Land, in dem Theater noch sozialer und politischer Sprengstoff ist. An jenem Abend, als jüngst in Jugoslawien die Revolution dem Gewaltregime Slobodan Milosevi'cs ein Ende setzte, wurde auf einer kleinen Belgrader Bühne "Der Sturz" der jungen serbischen Dramatikerin Biljana Srbljanovic gespielt. In dieser grotesken Allegorie auf serbische Politik und Befindlichkeit, die letztes Wochenende auch im Rahmen des steirischen Herbstes in Graz zu sehen war, geht es um Aufstieg und Fall eines Führers. In der Revolutionsnacht in Belgrad pendelte das Publikum zwischen Straße und Zuschauerraum, um am realen ebenso wie am fiktiven Umsturz teilzuhaben.

Der skrupellose Populist Zivko (Boris Isakovic) vermählt sich mit der "Übermutter der Nation" (Mirjana Karanovic) - wenn man so will: mit der Nation höchstpersönlich -, die ihm im Laufe der Zeit jene Gebilde gebiert, auf denen er seine Macht aufbaut: Staat, Medien, Kirche. Die Kinder Serbiens erleiden verschiedene Schicksale: Die einen, repräsentiert durch Vera (Jasna Djurcic), verzweifeln ob einem geisteskranken Selbstverständnis, demnach die Serben die Vorhut der "arischen" Rasse und das Bollwerk Europas gegen den Osten seien, die anderen, stellvertretend für sie steht Jovan (Nikola Djuricko), ziehen in den Krieg. Nachdem dieser ihr Sohn als Verlierer aus den Schlachten am Balkan zurückkehrt, erschießt die Übermutter ihn. Eine Inkarnation Jovans wendet sich nach vollzogenem Diktatoren-Sturz ab von absurden Traditionen, korrupten Klerikern und macht sich zu den Klängen des "Kraftwerk"-Klassikers "Trans Europa Express" auf in Richtung goldenen Westen.

Große Schauspielkunst oder herausragende Regie (Gorcin Stojanovic) durfte man freilich nicht erwarten. Mit Boris Komnenic und Mladen Andrejevic standen zwei vorgestrige Knallchargen auf der Bühne, nur Nikola Djuricko vermochte Jovans Werdegang vom Prügelknaben zum lässigen Tschetnik gekonnt darzustellen. Dafür aber konnte man lebendiges, realitätsrelevantes Theater bestaunen, dass so nahe an der Wirklichkeit ist, dass sich die Belgrader Zuseher entscheiden mussten, ob sie auf die Straße oder ins Theater gehen sollen.

Ganz anderes Theater wurde tags darauf auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses geboten: Sarah Kanes "Gier", eine Produktion des steirischen Herbstes. Der jungen Britin, die sich im Vorjahr das Leben nahm, eilt der Ruf voraus, zu den größten Dramatikern der Gegenwart zu zählen. In Bezug auf die quasi-realistischen Stücke "Zerbombt" und "Gesäubert" mag das zutreffen, "Gier" jedoch ist ein Text ohne Struktur, ohne Handlung, ohne erkennbaren Sinn. Vier "Figuren" geben Worte und Sätze von sich, die in keinerlei Moment aufeinander Bezug nehmen, nur an ein paar wenigen Stellen entsteht der Eindruck , hier würden zwei Menschen - immerhin - aneinander vorbeireden.

Folglich ähnelt die Aufführung eher einer literarischen Performance, denn einem Theaterstück. Regisseur Ali M. Abdullah lässt seine vier Darsteller durch ein seichtes Wasserbecken waten, laufen, sich darin wälzen und ihren Text frontal ins Publikum sprechen, schreien, brüllen. L'art pour l'art vom Feinsten liefert Monique Schwitter, Susanne Lichtenberger und Mathias Kopetzki schlagen sich tapfer durch den formlosen Wortdschungel, nur der bemühte Franz Solar kann nicht mit seinen Kollegen mithalten.

Eine Aufführung, die den Zuschauer völlig ratlos zurücklässt und einen seltsamen Wunsch aufkeimen lässt: in Belgrad zu leben.

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