Wahrhaftig er selbst?

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Der südafrikanische Autor J. M. Coetzee schreibt sein eigenes Porträt eines Noch-Nicht-Künstlers als junger Mann.

Er gehört zu den bekanntesten Autoren Südafrikas, der 1940 in Kapstadt geborene Schriftsteller und Literaturprofessor John Maxwell Coetzee. Dass er die einzigartige Auszeichnung erhielt, gleich zweimal mit dem Booker Preis gewürdigt zu werden, und zwar mit "Leben und Zeit des Michael K." (1983) und "Schande" (1999), hebt ihn erst recht aus der Schar der Schreibenden hervor. Nur eine Frage der Zeit, bis jemand mit solchen Erfolgen und aus einem so spannungsvollen Land beginnt, seine Memoiren zu schreiben?

Nun, Memoiren sind es zum Glück keine geworden. Vielmehr gestaltet Coetzee sein Leben literarisch und macht es zu einer packenden Lektüre. 1998 begann er mit seinen Kindheitserinnerungen "Der Junge". Nun kann man in "Die jungen Jahre" weiter lesen und staunen.

Mit Erinnerungen ist es ja so eine Sache. Wie kann man über sich schreiben, fragt natürlich auch die Hauptperson, "Er", der vielleicht Coetzee ist bzw. war. Der enthüllende, ja schonungslose Blick auf sich selbst, wie er in den "jungen Jahren" begegnet, ist faszinierend und abstoßend zugleich. Der hier schreibt, so merkt man sofort, hat keinesfalls im Sinn, dem Leser seiner Romane besonders sympathisch zu werden. Gerade das nimmt mich aber für ihn ein: da gibt es keine Betulichkeit, keine Schönfärberei, kein Besserwissen. Wie dieser junge Student - der in London lebt, arbeitet, studiert und davon träumt, eines Tages ein Künstler zu sein - vor allem mit Frauen umgeht, da bleibt einem schon manchmal die Spucke weg. Aber nicht, weil er sich in seinem Verhalten von so vielen anderen unterscheidet. Sondern weil er seinen Blick auf Dinge richtet, die sonst wohl lieber unter den Teppich gekehrt werden wollen.

Nicht im Imperfekt, sondern im Präsens wird erzählt: über die Ausbildung des mathematisch Begabten zum Programmierer bei IBM, seine Langeweile dort, seine Kündigung, sein Abwarten und Studieren, bis er durch die geltenden Aufenthaltsbestimmungen gezwungen wird, wieder einen Job anzunehmen.

Der Blick auf sich selbst lädt auch zum Schmunzeln ein, wenn Coetzee etwa schreibt: "Und was sein eigenes Schreiben betrifft, so möchte er hoffen, dass er, sollte er morgen sterben, eine Hand voll Gedichte hinterlässt, die dann von irgendeinem selbstlosen Wissenschaftler herausgegeben werden und privat gebunden als nette kleine Duodezschrift erscheinen, und die Leute würden dann kopfschüttelnd vor sich hin murmeln: Wie vielversprechend! Wie jammerschade!'"

Und war das alles wirklich so? Scheint diese Figur nicht allzusehr als verhinderter Künstler stilisiert, nach literarischen Vorbildern? Natürlich ist sie das.

"Wer sagt denn übrigens, dass die Gefühle, die er in seinem Tagebuch aufschreibt, seine wahren Gefühle sind? Wer sagt denn, dass er, während die Feder übers Papier eilt, immer wahrhaft er selbst ist? Einmal ist er vielleicht wahrhaft er selbst, ein anderes Mal erfindet er vielleicht einfach etwas. Wie soll er das genau wissen? Warum sollte er das überhaupt genau wissen wollen?" Was Coetzee im Zusammenhang mit seinen Tagebucheintragungen formuliert, gilt für das Schreiben als Ganzes, vor allem wenn es sich autobiografisch nennt. Das Wahrhaftige solcher Literatur ist nicht die Übereinstimmung mit dem, wie es oder jemand tatsächlich gewesen ist.

Was wiederum den Vorteil hat, dass auch Leser, die das Leben des Schriftstellers nicht recht interessiert oder die noch keine Bücher dieses Autors kennen, die "jungen Jahre" für mehr als lesenswert halten können. Ein literarischer Text, mit angenehmer ironischer Distanz, eindringlicher Ausdruckskraft, interessanten Querverweisen zu englischer Literatur, südafrikanischer Politik und dem Kalten Krieg. Ein literarischer Text, der nicht nur über den jungen Möchtegern-Künstler erzählt, sondern auch aus der Nähe über das London und aus der Ferne über das Südafrika der sechziger Jahre, jene Heimat des Studenten, die dieser meiden will wie die Pest und die er vergeblich zu verleugnen sucht.

Die Lektüre hat eigentlich nur einen Nachteil: dass man am Ende angelangt - der junge Künstler, der noch immer keiner ist, zählt mittlerweile 24 Jahre - geduldig warten muss, bis der nächste Band erscheint.

Die jungen Jahre

Von J. M. Coetzee. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002, 219 Seiten, geb., e 19,50

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