Wahrheit der Kunst

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Oder: Ein Realist muss alles erfinden!

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Oder: Ein Realist muss alles erfinden!

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Auf der Suche nach dem, was bildende Künstler im 20. Jahrhundert unter Wahrheit verstanden haben, kommen wir um einen Bildhauer wie Alberto Giacometti nicht herum. Giacometti, der Schöpfer unvergesslicher, überlanger und spindeldürrer Gestalten, der ein Leben lang mit aller Hingabe versuchte, das lebendige Wesen des Menschen in seiner Einmaligkeit zu fassen, meinte, dass sich ihm die Wahrheit immer entziehe, und sah sich nicht anders als Gescheiterten, der gezwungen war, die eigene Arbeit immer aufs Neue zu zerstören. Was Alberto Giacometti zur Verzweiflung trieb, langweilte Picasso, denn das Finden von Wahrheiten (er liebte den Plural) schien ihm die selbstverständlichste Sache der Welt. Im Gespräch mit dem Spanier beharrte Giacometti darauf, in der Suche nach Wahrheit immer wieder zu scheitern. Picasso widersprach - mit Nachdruck stellte er fest, es gäbe nicht nur eine Wahrheit, es gäbe hundert Möglichkeiten von Wahrheit. Picasso war, um mit Robert Musil zu sprechen, mit einem ungeheuren Möglichkeitssinn ausgestattet, der ihn immer neue Funde machen ließ.

Hundert Wahrheiten

Komplexer noch erscheint die Einstellung des Deutschen Künstlers Gerhard Richter, der durch seine unscharfen, in verwischten Grautönen gemalten Bilder bekannt wurde. Von ihm stammt auch die heute im Besitz des New Yorker Museum of Modern Art befindliche Serie von 31 Bildern, die den simplen Titel 18. Oktober 1977 tragen, jenem deutschen Schicksalsdatum, an dem die ehemaligen Terroristen Baader, Ensslin und Raspe im Zuchthaus Stammheim bei Stuttgart Selbstmord verübt haben. Diese Bilder klagen nicht an, sie verurteilen nicht, ihre Aussage ist nicht eindeutig, weil sie - das eben ist die Botschaft der Bilder - nicht eindeutig sein kann. Was sie uns sagen, ist: Es gibt keine fotografische Wahrheit, so wenig heute noch gemalte Historienbilder möglich sind. Wir können nicht mit letzter und absoluter Gewissheit wissen, was wirklich war, auch wenn wir über noch so eindeutige visuelle Belege zu verfügen meinen. Auch wenn wir uns auf nicht manipulierte fotografische Dokumente stützen, wissen wir nicht unzweifelhaft, was wir sehen. Die Sichtbarkeit der Welt gibt uns nur höchst unzureichende Auskunft über die Realität - und die Medien sind noch um etliches unzuverlässiger als der unmittelbare Augenschein. Dies aber: dass wir nicht zu wissen vermögen, dass nichts klar ist, sagen Gerhard Richters Stammheim-Bilder klar und deutlich. Es sind moderne Historienbilder, die uns die Unmöglichkeit beweisen, heute noch Historienbilder malen zu können.

Wahrheit und Wirklichkeit sind nicht identische Begriffe. Niemand hat das so schmerzhaft am eigenen Leib erfahren müssen wie ein berühmter Romanheld, der Don Quijote de La Mancha des Miguel de Cervantes Saavedra. Er mag ein Narr sein, verwirrt durch die Lügenwelt der alten Ritterromane, uns will er als einer der größten Wahrheitssucher aller Zeiten erscheinen. Gerade indem er die Realität verkennt, sehen wir ihn einer imaginierten Wahrheit auf der Spur. Von ihr lässt er sich durch keine noch so schlimme Niederlage abbringen. Jedes Abenteuer zeigt ihn in Konflikt mit der Wirklichkeit der Welt, die er so wenig anerkennen will wie die Flügel einer Windmühle. In Erinnerung bleibt uns Don Quijote als der "Ritter von der traurigen Gestalt" - überlang und spindeldürr, lässt diese uns auch an die Skulpturen Giacomettis denken. Sie dünkt uns der treffende Ausdruck der Unvereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit, und vielleicht hat das allein schon das zwangsläufige Scheitern des Don Quijote Cervantes dessen Verkörperung in einem "Ritter von der traurigen Gestalt" nahegelegt.

Große Kunst lehrt uns: Wahrheit ist eine Frage der Form. Und Form bedeutet mehr als Stil. Sie ist mehr als eine Art der Darstellung oder als ein Prinzip der Gestaltung. Ihr Charakter ist ein geistiger. Sie impliziert die spirituelle Durchdringung eines Stoffes, damit der Autor oder Urheber für ein bestimmtes Was das einzig mögliche Wie findet. Die Schlüssigkeit der Form, die formale Stimmigkeit eines Werkes entscheidet über seine Wahrheit wie darüber, ob und wie weit sich diese Wahrheit einem Leser, einem Betrachter mitteilt. Die Wahrheit ist etwas Ganzes, sie zerfällt nicht in einzelne Teile, sie lässt sich nicht willkürlich zergliedern.

Wahrheit ist in der Form

Unsere Erinnerung an die "traurige Gestalt" des Don Quijote hat noch einen anderen Sinn als den einer bloßen Reminiszenz. Zwar hat das Moment des Traurigen in Anblick und Auftreten des edlen Ritters heute so wenig wie zu Zeiten des Cervantes seine Komik verloren - Tragödie und Komödie gehören oft untrennbar zusammen -, aber wir vermögen in unseren Tagen in der physischen Erscheinung des Don Quijote so wenig etwas Hässliches zu erkennen wie in der Prosa seines Schöpfers, die uns diese so unvergesslich vorführt. Ich wage zu behaupten: Die Wahrheit der Kunst kennt keine Hässlichkeit. Wahrheit hat immer auch mit Schönheit zu tun, wenn wir die historischen Wandlungen unseres Verständnisses von Schönheit bedenken und diese nicht nur mit dem so genannten Naturschönen identifizieren.

Hier muss ich innehalten, denn mir fällt ein Philosoph - es ist wieder Friedrich Nietzsche - ins Wort und erinnert mich an seine von mir immer als ebenso verstörend wie bedenkenswert empfundene Äußerung, mit der er die gewohnte Einheit des Wahren, Schönen und Guten in Frage stellt: "An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen, das Gute und das Schöne seien eins; fügt er gar noch hinzu: auch das Wahre, soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen."

Die Wahrheit ist hässlich

Die Wahrheit, die bei Nietzsche mit dem dunklen dionysischen Urgrund der menschlichen Existenz verbunden war, bedurfte der Verbindung mit dem apollinischen Element der Kunst, um das Leben erträglich zu machen und Nietzsches rückhaltloses Ja-und-Amen-Sagen zur Welt, wie sie ist, bis in alle Abgründe und Schmerzen hinein - und selbst bis zur Schuld - zu ermöglichen. Die Kunst bedeutete dem Philosophen das stärkste Stimulans zum Leben. Damit die Kunst jedoch über das, was Nietzsche mit dem Begriff Wahrheit verband, triumphieren konnte, brachte der Philosoph noch einen weiteren Begriff ins Spiel, den des Scheins - einen Begriff, den er sogleich ins Positive überhöhte. Die diesseitige Welt, die viele nur eine Welt des Scheins nannten, barg für Nietzsche alles an Wahrheit, alles an Geheimnis, indes ihm die jenseitige Welt zur reinen Illusion wurde. Nietzsche hat das von ihm postulierte Spiel einer Umwertung aller Werte unablässig und konsequent betrieben. Ist die Wahrheit vielleicht nur ein Gleichnis, und wenn ja, wofür?

Was uns im Zusammenhang unserer Überlegungen an Nietzsches Gedanken interessieren muss, ist zweierlei: seine grundsätzliche Aufwertung der Kunst gegenüber allen anderen Phänomenen des menschlichen Daseins und das von ihm konstatierte Spannungsverhältnis von Wahrheit und Schönheit.

Viel mehr als um Aktualität und um Effekte, mehr noch als um Schock oder um Innovation geht es der modernen Kunst, wenn wir sie richtig interpretieren, um Wahrheit (Kandinsky sprach von "innerer Notwendigkeit"). So rückhaltlos hat sich die Moderne dem Streben nach Wahrheit, nach Authentizität verschrieben, dass man nach einer Tagung im ereignisreichen Jahr 1968 allgemein von den "nicht mehr schönen Künsten" sprach, wenn man die zeitgenössische bildende Kunst meinte. Das hat in der Kunst zuweilen zu einem Kult des Hässlichen - oder des vermeintlich Hässlichen - geführt, ein Kult, der den lustvoll zelebrierten Schock nicht ausschloss. Nicht alles, was uns hässlich scheint, darf deswegen für sich in Anspruch nehmen, im Besitz der Wahrheit zu sein - wir dürfen aber nicht vergessen, dass viele der Experimente derer, die sich im Reich des Hässlichen - oder des vermeintlich Hässlichen - bewegen, auf der Suche nach Wahrheit unternommen wurden, was ihnen, wenn schon nicht Glanz, so doch zweifellos Respektabilität verleiht und uns erlaubt, vom Ethos der Künstler zu sprechen.

Wichtiger aber noch als das, was aus den komplizierten Spannungen zwischen den einstmals unzweifelhaft schönen Künsten und der Suche nach Wahrheit erwachsen kann, erscheint mir Nietzsches grundsätzliche Aufwertung der Kunst, die er noch über die Wissenschaft als machtvollstes Phänomen der menschlichen Existenz stellte. So konnte das 19. Jahrhundert, in welchem der Begriff der "Kunstreligion" entstand, generell behaupten: das umfassendste Verständnis von Wahrheit verbindet sich mit der Kunst. Das setzte ein Verständnis von Kunst voraus, das die Mobilisierung aller im Menschen angelegten schöpferischen Kräfte - nicht zuletzt seiner Erfindungsgabe - meinte. Einer Kunst, die mehr erstrebte als die Abschilderung der planen Wirklichkeit vor unseren Augen. Einer Kunst, welche die Deutung, das Gleichnishafte nicht scheute. Einer Kunst, die den Versuch darstellte, das Erfahrene, Gesehene, Erlebte aus seiner linearen Chronologie und seiner räumlichen Verhaftung zu lösen und neu zu gliedern, sie in einem höheren Sinn in Ordnung zu bringen, zu "verdichten". Damit das gelingt, muss manches erfunden werden, das uns später plausibel erscheint, das wir als "wahrer als wahr" akzeptieren. Denn das Leben kann uns oft enttäuschen.

Die Erfindungsgabe! Gerade ein realistischer Künstler kann auf sie nicht verzichten. Der kanadische Maler Alex Colville, bekannt für seine "lebensecht" wirkenden, penibel gemalten Schilderungen heutigen ländlichen Lebens zwischen unberührter Natur und hochentwickelter Technik, sagte: "Weil ich Realist bin, muss ich alles erfinden." Das ist nur scheinbar paradox. Die Wahrheit des Kunstwerks muss immer neu erfunden werden, damit sie glaubwürdig wirkt. Das Geschehen der Welt muss "verdichtet" werden, um uns im Kunstwerk zu überzeugen.

Die Wahrheit erfinden

Auch Cervantes ging es darum, in seinem Don Quijote Erfindung und Wahrheit zu versöhnen, und mehr, Erfindungen als die Quelle der Wahrheit zu präsentieren. So lässt er im 2. Band seinen Helden, den endlich weise gewordenen närrischen Wahrheitssucher, im Gespräch sagen: "Die Geschichte - und ihre Erzählung - ist wie ein Heiligtum, denn sie muss wahr sein, und wo Wahrheit ist, da ist Gott." Das lässt Cervantes seinen Don Quijote sagen, eine der genialsten Erfindungen der Weltliteratur. Erst seine Erfindung bringt die Wahrheit zur Anschauung

In der poetischen Sicht mag sich manche Wahrheit verstecken, die noch nicht offenkundig ist, aber ans Licht der Welt will. Die besten Belege für diese Annahme finde ich in den Porträts, die der frühe Oskar Kokoschka gemalt hat. In ihnen hat man eine gewisse Hellsichtigkeit entdecken wollen, die den jungen Künstler ausgezeichnet habe. Auf jeden Fall sind sie alle von der nervösen Spannung erfüllt, die zwischen dem Maler und den von ihm Porträtierten entstanden war. Anfänglich mochten sich manche der so im Bildnis Verewigten nicht wiedererkennen, und auch der eine oder andere Betrachter zweifelte an der Treffsicherheit des Malers. Aber es war offensichtlich: im Laufe der Zeit wurden die Porträtierten ihrem Porträt immer ähnlicher. Versteckte Krankheiten traten hervor, Spuren des Alters wurden sichtbar - und das alles war in das Gesicht der Dargestellten schon seit je eingezeichnet. Ähnliches hat man über Picassos berühmtes Porträt der Gertrude Stein gesagt - sie sei mit den Jahren immer mehr die geworden, die der Künstler einmal gemalt hat. Und so und nicht anders lebt sie in unserer Vorstellung.

Es ist eine seltsame Sache mit der Wahrheit in der Kunst. Es ergeht dem, der über sie nachdenkt, nicht anders als dem Heiligen Augustinus mit Gott und der Religion. Wenn wir für uns - ähnlich wie es Augustinus von sich sagte - an die Wahrheit denken, glauben wir genau zu wissen, wie es sich mit ihr verhält. Wenn wir aber danach gefragt werden und sie in Worte fassen sollen, sind wir auf einmal sprachlos. Wir glauben der Wahrheit ganz nahe zu sein, aber wir vermögen nicht, es zu sagen.

Der Text ist die stark gekürzte Fassung der Rede des Autors zur Eröffnung des Carinthischen Sommers am 7. 7. 2006 in Ossiach.

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