Wahrnehmen - was? Wie?

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Alois Hotschnig lockt seine Leser, sich auf ein Abenteuer einzulassen.

Man könnte die literarischen Arbeiten Alois Hotschnigs mitreißend nennen: weil sie immer dazu herausfordern, genauer als gewohnt hinzuschauen und hinzuhören auf das, was auch im wirklichen Leben wahrzunehmen wäre, aber dann doch allzu oft an den Rand geschoben, übersehen, überhört, verdrängt wird.

In seltener Einmütigkeit bescheinigt die Literaturkritik, dieser Autor bewege sich wie nur wenige souverän im Zwischenreich zwischen Fiktion und Realität, er habe einen Stammplatz in der ersten Reihe der österreichischen, der deutschsprachigen Literatur, weil seine Handschrift eben ganz eigen, nur ihm eigen sei. Diese Handschrift verrät sich bereits im ersten Satz der ersten Erzählung Hotschnigs, "Aus" (1989): "Auf dem Hof habe ich einmal als Ministrant den Vater vom Fürsten begraben, in die Gruft abgeseilt, in den Stein eingesargt wurde der, und dann kam da ein Gitter darauf, dieses Gitter ist unser Gatter gewesen, das zwischen den Bäumen die Welt zum Sperrgebiet machte." Schon dieser Satz und nicht erst die folgende große Abrechnung des Ich-Erzählers mit seinem Vater erinnert an Kafka. Eine glasklare Sprache, ein Ich, das sich scheinbar zurückhält und den Schauplatz des Geschehens an die erste Stelle, in den Vordergrund rückt; schlichte Wörter, hinter denen sich gleichwohl rasch Abgründe auftun: Schon im ersten Satz ist die Basis für eine Wirklichkeitskonstruktion angelegt, in der familiäre Beziehungen, Machtverhältnisse durchgespielt werden können, ohne dass das bekannte starre Täter-Opfer-Motiv weiter bemüht werden müsste. Anders als in anderen prosaischen Annäherungen an die Väter wird in Hotschnigs Erzählung nicht nur eine Geschichte unzähliger Demütigungen vorgeführt, die der Mutter des Ich-Erzählers und diesem selbst gelten, sondern auch eine Umkehrung der Beziehungen durchgezogen; der Sohn, seit seiner Geburt als Opfer ausersehen, wird zum Täter.

Gesellschaft als Körper

Hotschnigs Interesse an Krankheiten, namentlich an den Krankheitssymptomen des Gesellschaftskörpers (in seiner zweiten Erzählung "Eine Art Glück" dreht sich alles um zentrale Begriffe wie Ablehnung, Ekel, Hass), dieses Interesse, soziale Krankheiten von allen nur denkbaren Seiten zu beleuchten und das Thema "Schuld" mit allen seinen psychologischen, juristischen und theologischen Implikationen aufzuwerfen, verbindet ihn mit einer Reihe von Schriftstellern, denen gern attestiert wird, dass sie, weil sie an diesem Land leiden, Österreich dafür die Quittung erteilen.

Schon Kafka hat sich (in der Nacht vom 14. auf den 15. Jänner 1913) notiert, "man könne nicht genug allein sein, wenn man schreibt", es könne "nicht genug still um einen sein, wenn man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht". Die einsamen Schriftsteller, die die Einsamkeit suchen, resolut und unablässig um Vielschichtigkeit bemüht, um die Förderung des Möglichkeitssinns, in einem Umfeld, in dem doch weithin Ideologen das Sagen haben, die nichts anderes als Entschiedenheit kennen auch in allen höchst-komplexen Konstellationen: Diese zumeist einsamen Schriftsteller und Schriftstellerinnen, von Joseph Roth und Robert Musil bis zu Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek, die der realen Welt ihre eigene, eine ganz andere entgegenhalten, sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, "das selbstverliebte Leiden der Österreicher" (Thomas Kraft) als unverwechselbares Markenzeichen ihrer Kultur und somit als Kriterium der Ab- und Ausgrenzung hochzuhalten. Über die Berechtigung dieses Verdikts ließe sich trefflich streiten; auf die Bücher Hotschnigs allerdings träfe der Vorwurf keinesfalls zu.

Auch wenn Hotschnig in manchem, gelegentlich sogar stilistisch, augenzwinkernd selbstverständlich, an Thomas Bernhard anknüpft, wie etwa in seinem Roman "Ludwigs Zimmer" (2000): Wo es darauf ankommt, wird es todernst. Wie Bernhard verurteilt auch Hotschnig unmissverständlich das Schweigen über die NS-Zeit und den nachsichtigen Umgang mit den Schergen in den Jahren danach im Zeichen des sogenannten Wiederaufbaus (nicht: "Neuaufbaus").

Liebe, Abhängigkeit, Schuld, Tod

Aber die zentrale Frage, die Hotschnig thematisiert, ist nicht die Parallelsetzung zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus, auch nicht das Weiterwuchern faschistoider oder neonazistischer Rede- oder Verhaltensweisen, sondern die Wahrnehmung der Verhältnisse, das Sich-Stellen den Verhältnissen gegenüber: "Ich gehöre hierher", so zieht der Ich-Erzähler am Ende Bilanz, "denn auf meine Art begegnete ich mir in Landskron wie nirgendwo sonst." Das Leiden mit dem Leiden an Österreich wird in Hotschnigs Werk ausgeweitet zum Leiden an der Welt. (Friederike Gösweiner hat das in ihrer Diplomarbeit über Schuld als Motivkomplex in Alois Hotschnigs Erzählungen überzeugend nachgewiesen.)

Große Themen: Liebe, Abhängigkeit, Schuld, Tod. Wo aber bleiben Witz und Humor? Sie sind hin und wieder versteckt, aber doch zu entdecken in den Querverweisen, die viele Geschichten Hotschnigs gleichsam durch unterirdische Kanäle miteinander verbinden. Sie kommen zum Vorschein in Anspielungen, die prominente Prätexte (von der Bibel bis zum Werk Thomas Bernhards) zitieren und aufheben. Und sie haben ihren Platz in den Erzählstrategien, denn wie seine Figuren beobachtet der Autor auch seine Erzähler mit Argusaugen.

Es scheint ja nicht selten, als gäbe es für Letzteres zunächst einmal überhaupt keinen Anlass. In der Erzählung "Dieselbe Stille, dasselbe Geschrei", die den Prosaband "Die Kinder beruhigte das nicht" (2006) eröffnet, tritt beispielsweise ein Erzähler auf, der von allem Anfang an sachlich, geradezu nüchtern wirkt, der umsichtig registriert, nicht vorschnell wertet - kurz, ein Mensch, dem man vertrauen kann. Ein Mensch, der an einem See wohnt und tagein, tagaus seine Nachbarn beobachtet, einen Mann und eine Frau.

Was er wahrnimmt, wäre kaum wert, festgehalten zu werden. Aber wie er wahrnimmt, was er sieht, wie er auf seine Wahrnehmungen reagiert, wie er sein Leben ändert, dem gilt das Hauptaugenmerk des Autors. Und die Leser, geführt von diesem Erzähler, verführbar?, müssen am Ende auch Konsequenzen ziehen, sehen sich genötigt, sich auf ein richtiges Abenteuer einzulassen, die eigenen Wahrnehmungen, die vertraute Art zu denken, zu empfinden, zu reden, selbstkritisch zu überprüfen, genauer als gewohnt hinzuschauen und hinzuhören auf das, was auch im wirklichen Leben wahrzunehmen wäre.

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