Wahrnehmungs-Probleme

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Einen "agnostischen“ Film prämiierte die Festival-Jury von Locarno. Doch auch Österreich ging ganz und gar nicht leer aus: Tizza Covis und Rainer Frimmels "Der Glanz des Tages“ überzeugte.

Es verwundert kaum, dass der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul, Präsident der heurigen Locarno-Jury, diesen Film mochte: "La fille de nulle part“ von Jean-Claude Brisseau, der in Locarno nun den Goldenen Leoparden erhielt, ist nämlich ein bisschen die Absage an all die (religiösen) Glaubensfragen, die die Menschheit befassen, aber nicht ohne zugleich Raum genug für das Vorkommen scheinbar übersinnlicher Vorgänge zu bieten. Es spukt gewaltig in diesem Low-Budget-Film, den Brisseau in seiner eigenen Wohnung und mit sich selbst als Hauptdarsteller gedreht hat. Weerasethakul ist selbst einer dieser Filmemacher, die ihre Arbeiten als beinahe spirituelle Rätsel konstruieren - man erinnere sich nur an "Uncle Bonmee“, und jetzt war "La fille de nulle part“ für ihn gewissermaßen der Film der Wahl.

"La fille de nulle part“ setzt eine Art Schlusspunkt unter ein Werk, dem in der französischen Filmwelt viel Anerkennung, aber auch Tadel widerfuhr. Jean-Claude Brisseau hat sich gerne mit Erotik befasst in seinem Kino. Jetzt inszeniert er sich als über 70-jährigen Mathematik-Professor im Ruhestand, der in seiner Pariser Wohnung an einem Alterswerk schreibt: Es geht um einen Essay zum Thema Mythen und Glauben, um Grundsätzliches also, ausgerechnet formuliert von einem Agnostiker; das Zweifeln ist des von exakter Wissenschaft geprägten Mannes liebster Zeitvertreib. Bis eine junge Frau in sein Leben tritt, die verletzt vor seiner Tür kauert und die er vorübergehend bei sich aufnimmt. Natürlich bringt diese Person Konfliktpotenzial mit, und zwischen den beiden entsteht eine Annäherung. Zugleich aber häufen sich in seiner Wohnung mysteriöse Ereignisse, an deren Unerklärbarkeit der alte Mann nicht und nicht glauben will.

Brisseau legt sein Kammerspiel irgendwo zwischen (Selbst-)Ironie und der These an, dass Menschen sich lieber an irgendetwas klammern, bevor sie an gar nichts glauben.

Silberner Leopard für österreichischen Film

Auch für den österreichischen Beitrag "Der Glanz des Tages“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel gab es Preise, unter anderem jene der ökumenischen Jury. Hauptdarsteller Walter Saabel bekam einen Silbernen Leoparden für die tatsächlich herausragendste, weil authentischste Schauspieler-Leistung des Festivals. Covi und Frimmel erzählen von einem Schauspieler (Philipp Hochmair spielt sich selbst), in dessen von Textlernen und Theaterproben beherrschtes Leben plötzlich sein Onkel (Saabel) tritt, der ihm wieder so etwas wie Lebensnormalität vorzeigt. Das Aufeinandertreffen zweier Welten ist hier als wunderbar unprätentiöse Filmerzählung geglückt: Die Künstlichkeit in der Welt des Schauspielers, der in seinem Texten versinkt anstatt mit beiden Beinen im Leben zu stehen, wird durch die Anwesenheit seines bodenständigen Onkels, eines einstigen Zirkusartisten, konterkariert. Covi und Frimmel arbeiten erneut mit großer dokumentarischer Präzision und starkem Hang zu Wirklichkeitsnähe und Natürlichkeit.

Den Spezialpreis der Jury erhielt die US-Produktion "Somebody Up There Likes Me“ von Bob Byington. Eine nur 75-minütige Tour de Force und Tour d’Horizon gleichermaßen, denn hier verhandelt der Regisseur im Eiltempo gleich 35 Jahre im Leben eines (im Film nicht alternden) Mannes, der durch Liebe, Heirat, Vaterschaft und Scheidung stolpert wie ein unbedarfter Schuljunge mit der phlegmatischen Coolness eines Dandys. Stilistisch zieht sich Byington von Beginn an auf ein stoisch-statisches Blickfeld zurück, innerhalb dessen er den Akteuren viel Raum für ironische, aber auch zynische Selbstbetrachtung lässt. "Schräg“ nennt das der Boulevard. Stilsicher und erfrischend innovativ das Feuilleton. Mehr Filme solcher Provenienz täten Locarno gut. Sie würden das Festival als Geheimtipp bestätigen.

Denn Locarno kämpft noch immer mit seiner Wahrnehmung im Festivalzirkus: Marco Solari, Präsident der Schau, gab daher die Direktive für die kommenden zehn Jahre aus: "Wir sind international noch immer viel zu schwach - wir müssen uns in den nächsten zehn Jahren voll auf den Ausbau unserer Strahlkraft jenseits der Schweizer Grenzen konzentrieren.“ Zugleich aber muss man den Weg, den Locarno im dritten Jahr unter dem künstlerischen Leiter Olivier Père geht, loben: Sein Spagat zwischen anspruchsvollem Arthaus-Kino im Wettbewerb und zugänglicheren Filmen auf der Piazza Grande (Independent-Komödien wie "Ruby Sparks“ oder Schweizer Horror wie "Das Missenmassaker“) generiert Aufmerksamkeit. Hinzu kommt die große Anzahl an Stars, die Père holt. In diesem Jahr überreichte er Alain Delon, Charlotte Rampling, Ornella Muti oder Harry Belafonte Sonderpreise. Da muss Père nur aufpassen, dass seine sonst so innovativ-mutige Filmschau nicht zur Nostalgie-Veranstaltung für die Altstars des Weltkinos verkommt.

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