Wandel zum Pluralismus

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In Österreich gibt es kaum mehr herkömmliche Gesinnungsmedien. Wichtig wären weltanschaulich-weltoffene Medien der gesellschaftlich relevanten Gruppen.

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In Österreich gibt es kaum mehr herkömmliche Gesinnungsmedien. Wichtig wären weltanschaulich-weltoffene Medien der gesellschaftlich relevanten Gruppen.

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Wer oder was ist am Ende der Gesinnungspresse schuld? - Vielleicht sollte man zuerst einmal einen Augenblick innehalten und erklären, was denn das überhaupt ist beziehungsweise war.

Das 1982 (!) erschienene Handwörterbuch der Massenkommunikation und Medienforschung bezeichnet damals schon diesen Begriff als einen "manchmal noch verwendeten Ausdruck" für Presseprodukte, hinter denen gesellschaftspolitische Kräfte stehen.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit zählten die meisten Zeitungen zur Gesinnungspresse, ab den sechziger und siebziger Jahren wurde sie spärlicher und spärlicher. Heute gibt es nur mehr ganz wenig davon, meist außerhalb des regulären Medienmarktes. Was hat diesen Niedergang hervorgerufen? Dafür gibt es nicht nur einen Grund, sondern deren mehrere, welche wiederum miteinander verzahnt sind.

Erstens war dieser Abstieg zu einem nicht unbeträchtlichen Teil hausgemacht. Zentralorgane, in denen die jeweils herrschende Verbands- oder Organisationsmeinung grundsätzlich immer als richtig und andere Ideen grundsätzlich immer als falsch dargestellt werden, befriedigen außer die Herausgeber nur eher schlichte Gemüter.

Leider war das nicht der einzige typische Fehler. Die Nachrichtenauswahl und -präsentation genügte nicht selten - beziehungsweise genügt, denn es gibt ja noch immer einige Gesinnungsorgane - weniger journalistischen Standards als den Vorlieben der Amts- und Würdenträger der betreffenden Organisation. Verlautbarung und Hofberichterstattung verschreckt selbst gutwillige Leser.

Das boshafte Apercu von Karl Kraus, es genüge für den Journalismus nicht, nichts zu sagen zu haben, man dürfe es auch nicht ausdrücken können, gilt natürlich nicht für die gesamte Gesinnungspresse - ganz im Gegenteil. Es gab eine Zeit, da lasen Freund wie Feind diese Zeitungen mit großem Gewinn. Wer die authentische Interpretation der Meinungen und Vorstellungen einer gesellschaftlich relevanten Gruppe wissen wollte, dem blieb gar nichts anderes übrig, als deren Medien zu rezipieren. Woanders konnte man diese Informationen in dieser Klarheit nicht bekommen, weil weltanschauliche Gruppen weitestgehend in sich geschlossen waren. (Wenn mich meine historischen Quellen nicht trügen, war einer der Gründe für den Ausschluß des seinerzeitigen Innenministers Olah aus der SPÖ der Vorwurf, er habe einer unabhängigen Zeitung ein Interview gegeben, ohne den Parteivorstand vorher um Erlaubnis zu fragen!) In der heutigen Zeit ist dies unvorstellbar geworden.

Zweitens ist in der offenen "Informationsgesellschaft" die Öffentlichkeitsarbeit an die Stelle der Zentralorgane getreten, mit allen daraus entwachsenden Vor- und Nachteilen. Man erreicht ein breiteres Publikum für seine Ansichten, nicht mehr nur die sogenannten "likeminded people". Auf der anderen Seite hat man sich den Nachrichtenwerten der weltanschaulich ungebundenen Medien, auch dem Sensationellen und Unterhaltsamen zu beugen. - Der "flotte Sager" hat allemal bessere Chancen veröffentlicht zu werden als die programmatische Erklärung. Wortführer, die es verstehen, medienwirksam zu agieren, prägen auch entsprechend das Bild ihrer Institution.

Drittens hat sich in den letzten Jahren ein langsamer aber stetiger politisch-sozialer Wandel durchgesetzt. Verluste oder Gewinne von mehr als zwei Mandaten galten zu Beginn der Siebziger noch als politischer Erdrutsch. Im Wahlkampf wurde um die Stimmen von insgesamt drei bis acht Prozent Wechselwähler geworben. Heute ist man bei solchen Wahlresultaten beinahe geneigt, von stabilen Kräfteverhältnissen und unspektakulären Ergebnissen zu reden.

Um zu wissen, wie ein Arbeiter aus dem steirischen Industrierevier oder die ländliche Bevölkerung im Waldviertel wählt, brauchte man in den sechziger Jahren keine Demoskopen zu bemühen. Ziemlich klar war aber auch, welche persönlichen Werthaltungen man von einer Religionslehrerin oder einem Gewerkschaftsfunktionär erwarten konnte. Die Gesinnungspresse diente allen diesen Personen auch dazu, ihre eigene Identität zu bestätigen und die jeweiligen Gruppen zu integrieren und zu homogenisieren.

Die Gesellschaft ist inzwischen pluralistischer geworden. Unterschiedliche Lebensentwürfe, die scheinbar oder tatsächlich Disparates verbinden, oft auch nur für bestimmte Lebensabschnitte gelten, sind inzwischen nicht nur möglich, sondern eigentlich schon zum Normalfall geworden. Die Identitätsfindung erfolgt mehr und mehr durch Kleingruppen am Arbeitsplatz oder in der Freizeit.

Auch die politischen Probleme sind komplexer geworden und lassen sich mit dem traditionellen Arsenal gesellschaftlicher Organisationen immer schlechter erklären, geschweige denn für alle - auch nicht für alle der eigenen Klientel - zufriedenstellend lösen. Die selbstbewußtere Rolle der Frau in unserer Gesellschaft oder die ökologischen Probleme sind nur zwei herausragende Phänomene "neuen Typs", für welche Parteien, Verbände und Kirchen nur ungenügende Leitbilder aus ihrem Fundus anzubieten haben. Die Bruchlinien der weltanschaulichen Auseinandersetzungen sind hier nicht mehr zwischen "uns" und den "anderen", sondern verlaufen quer durch die Organisationen. Weil eben "alles sehr kompliziert ist", wie ein vielleicht zu unrecht deswegen belächelter Bundeskanzler einmal gesagt hat, kann eine Gesinnungspresse (oder meinetwegen auch ein Gesinnungsfunktionär) keine umfassende Orientierungsfunktion mehr anbieten und damit zur Identitätsfindung auch nicht mehr beitragen.

Viertens hat sich auch das Mediensystem im selben Zeitraum gewandelt beziehungsweise die Medienfunktionen. Weil gesellschaftliche Wertvorstellungen eben pluralistischer und weniger gemeinverbindlich geworden sind, versuchen Medien, mit Erfolg "news you can use" anzubieten. Das meint Lebenshilfe für konkrete, wechselnde Situationen, nicht aber weltanschauliche Erklärungsrahmen. Auch Journalisten sehen sich daher, wie deutsche und auch österreichische Studien beweisen, immer weniger als Aufklärer denn als Dienstleister.

Außerdem verkauft sich Weltanschauung ganz einfach schlecht. Wenn Medien Wirtschaftskörper sind, wie andere auch, geht es darum, die Absatzzahlen zu erhöhen. Medien mit gesellschaftspolitischer Grundtendenz im allgemeinen und weltanschaulich gebundene im besonderen sind im Wettbewerb mit nichteinordenbaren Massenkommunikationsprodukten klar im Nachteil. Wer Religiöse wie Atheisten, Linke, Rechte, Liberale, Umweltschützer wie Autofanatiker ansprechen kann, hat zwangsläufig die größeren Reichweiten als jene, welche nur für eine ganz bestimmte Gruppe produzieren. Mit einer Mischung aus "aktuellstem Verkehrsfunk" und "größten Hits" kann man, wie die neuen Privatradios vorführen, als Medienunternehmer nicht sehr viel falsch machen. Wer die größeren Reichweiten hat, bei dem klingeln auch die Kassen der Werbeeinnahmen am lautesten. Wer nur für eine beschränkte Zielgruppe produziert, kommt über eher kurz als lang in finanzielle Probleme (es sei denn, es handelt sich um eine besonders exklusive und kaufkräftige Minderheit).

Rückblickend ist man immer klüger. Hätten die Eigentümer, Manager und Journalisten der Gesinnungspresse so verfahren können, um bis heute eine große Rolle zu spielen? Das scheint ausgeschlossen.

Die einzige Überlebensstrategie für Gesinnungspresse besteht in einem Wandel zu einem pluralistischen Meinungs- und Informationsbukett mit weltanschaulichem Hintergrund. Die meisten haben diesen Wandel schon vollzogen und sind daher sensu strictu keine Gesinnungsmedien mehr. Der Rest wird diesem Wandel folgen oder untergehen.

Resümierend muß dieser Abschied von der Gesinnungspresse im engeren Sinn auch nicht besonders traurig stimmen, ist er doch auch ein Beweis für relativen Wohlstand und Zivilgesellschaft. Allerdings wird mit leicht verdaulichem Infotainment (und Handy als Abo-Beigabe) die Kohäsion der Gesellschaft Schaden nehmen.

Deswegen sollten die gesellschaftlich relevanten Gruppen möglichst gemeinsam für eine Medienpolitik sorgen, welche die Existenz möglichst vieler "weltanschaulich-weltoffener" Medien garantiert.

Der Autor ist Universitätsprofessor für Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien.

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