Elfriede Jelinek  - © Foto: APA/Roland Schlager

Elfriede Jelinek: Warum sie immer noch provoziert

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Sprache ist ebenso politisch wie Heimat, Liebe, Leitfiguren, Poetologie und Schreibtraditionen: zu lesen in Elfriede Jelineks Literatur.

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Sprache ist ebenso politisch wie Heimat, Liebe, Leitfiguren, Poetologie und Schreibtraditionen: zu lesen in Elfriede Jelineks Literatur.

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Elfriede Jelineks Literatur provoziert seit vielen Jahren. Die am 20. Oktober 1946 in Mürzzuschlag geborene Schriftstellerin gilt als politische Autorin. Aber was ist eigentlich alles politisch? Ein Versuch in zehn Anläufen, anlässlich des 70. Geburtstages der Autorin.

1. Das Private ist politisch

Am Beginn von Elfriede Jelineks Werk steht die Frage, was die massenmediale Berieselung in den Köpfen wie Herzen der Menschen auslöst, und diese Untersuchungen am Tatort Kleinfamilie waren von Anfang an eingebettet in ein größeres Ganzes rund um die Themen Macht, Geld, Gier und Schuld. Frauen sind hier durch ihre Geschlechterrolle oft Opfer - und sei es nur ihrer eigenen Illusionen und ihrer, inneren Vergesellschaftung', die sie auch zu Täterinnen macht. Heute mögen sie an allen gesellschaftlichen Feldern teilhaben, doch ihr Zugang bleibt oft gebrochen, denn die Definitionsmacht liegt nicht in ihren Händen.

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2. Sprache ist politisch

Sprache enthält eingefrorene Vor-Urteile. Jelineks unscharf-haarscharfes Changieren entlang von Sprachbildern und Redewendungen löst oft Zeile für Zeile einen scheinbar naiven Clash der Sprechweisen aus. Die "Sprache von der Leine lassen und schauen, in welchen Winkeln sie schnüffelt und was sie von dort aus dem Schmutz und Staub zutage fördert", so beschreibt Elfriede Jelinek ihr Verfahren. Und sie findet dabei vieles an gestohlener Sprache, hohlen Phrasen und täuschenden Versatzstücken.

3. Geschlechterrollen sind politisch

In "Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft" bezieht sich das Wort "Infantil" auf die kritiklose Übernahme klischeehafter Vorstellungen aus Medien wie Trivialkultur und eine dadurch scheiternde Identitätsbildung. Die scheint in unserer Gesellschaft für Männer unproblematischer.

Doch Ungleichheit wird nicht nur über Geschlechtszugehörigkeit hergestellt. Der Holzknecht und der Kaufhauskönig in "Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr" teilen die Geschlechter-, nicht aber die Sozialrolle, während die Managerin und die Herren der Jagdgesellschaft zwar die Sozial-, nicht aber die Geschlechterrolle teilen. Für den Holzknecht wie für die Managerin endet die Geschichte nicht gut. In Krisensituationen haben männliche Akteure unabhängig von ihrer Sozialrolle freilich immer noch die Option physischer Gewalt. Das schafft sogar Erika Kohuts Schüler Walter Klemmer in "Die Klavierspielerin".

4. Liebe ist politisch

Im Geflecht von Macht, Kapital und Gier bleibt der weibliche Körper ein zentrales Tauschmittel für die Gesellschaft wie für das Individuum. Er ist eine Ware und wird auch von den ,Opfern' im Kampf um die Glücksversprechen der Werbeindustrie bewusst als solche eingesetzt. In diesem Punkt herrscht Einigkeit zwischen den Geschlechtern und nur so kann es funktionieren.

Allerdings gerät dadurch das bürgerliche Konzept der Liebe unter das Diktat des Prostitutiven, das Elfriede Jelinek zunehmend als zentralen Motor unserer Gesellschaft vorführt. Die Befreiung der Sexualität nach 1968 rüttelte ebenso wenig an der Geschlechterungleichheit wie die aktuelle Enttabuisierung des Pornografischen. Dass Männer wie Frauen das Sackerl vom Pornoshop ins Kaffeehaus mitnehmen können, ändert nichts Prinzipielles.

5. Heimat ist politisch

Eine Motivkette in "Wolken.Heim." ist das Bild der Untoten, das in "Die Kinder der Toten" dann im Zentrum steht. Ort der (Un)Toten ist der (Heimat-)Boden, Symbol der verdrängten Schuld und Inbegriff diffuser Sehnsüchte nach Geborgenheit. Untot sind die Opfer des Nationalsozialismus, die als ungesühnte Schuld in die Gegenwart hereinragen, und untot ist die Ideologie, die zu ihrer Ermordung führte.

Gegen Ende von "Wolken.Heim." spielt Elfriede Jelinek Hölderlins Gedicht "Hälfte des Lebens" ein. Es war genau dieses Gedicht, das Jean Améry wählte, um den radikalen Verlust des deutschen Bildungsgutes für den jüdischen Intellektuellen im KZ zu beschreiben, denn "was immer er anzurufen suchte, gehörte nicht ihm, sondern dem Feind".

6. Schreibtraditionen sind politisch

Literatur speichert historische Zeugnisse über gesellschaftspolitische Zustände. Jelinek bezieht sich oft auf überkommene Erzählmodelle wie den Horrorroman ("bukolit"), das Jugendbuch ("Michael"), die Posse mit Gesang ("Burgtheater"), den Unterhaltungsroman ("Gier") oder das Königinnendrama ("Ulrike Maria Stuart"). Und sie erfindet neue Genres wie den online-Privatroman ("Neid") oder das Sekundärdrama. Da Frauen als sekundäres Geschlecht die Abweichung von der Norm darstellen, muss das zugehörige Material oft erst ausgegraben werden, kulturell aus den "Abraumhalden" der Weltliteratur oder real aus den Kellerverließen wie in "FaustIn and out".

7. Leitfiguren sind politisch

Historische oder mythische Frauengestalten haben bei Jelinek nie Erlösungspotential, sie sind Zerrbilder der Ordnung, in der sie agieren. In "Schatten (Eurydike sagt)" verweigert Eurydike eine Wiederbelebung durch Orpheus, den Popstar. Sie rollt sich zufrieden wieder ein zu einer Art "Modell auf Rollen", an dem "immer ein andrer" ziehen muss. Das ironisiert das Konzept des Rolemodels, das stets von außen vorgegeben wird, sei es durch Castingshows oder Schnuppertage für Mädchen in Männerberufen. Diese werden da in Autowerkstätten oder Tischlereien geführt, vielleicht noch in ein IT-Büro, aber sicher nicht zur wirtschaftlichen und politischen Macht, um das Arbeitsfeld des OMV-Chefs oder des Landwirtschaftskammerpräsidenten kennenzulernen.

8. Zugehörigkeitsfragen sind politisch

Oft differenzieren sich in Jelineks Texten konkrete Figuren aus einem Wir erst allmählich heraus, wenn die Frage nach der gesellschaftlichen Position auftaucht. Dann separieren sich die Zocker von den Kleinanlegern in "Die Kontrakte des Kaufmanns", dann treten die Sängerin oder der Fußballstar aus dem Kollektiv der "Schutzbefohlenen" heraus und werden für ihr symbolisches Kapital oder gegen reales Kapital mit dem "Blitz" eingebürgert. Die Form der Bezahlung kann dabei geschlechtsspezifische Dimensionen annehmen: Frauen, die keine Stimme haben, müssen "Stimmgabeln" werden, also sich für Papiere oder Schleppergebühren prostituieren.

9. Poetologie ist politisch

Jelineks Textflächenarchitekturen verunmöglichen oft eine eindeutige Identifizierung der Sprecher-Rollen und reagieren damit auf außerkünstlerische Entwicklungen wie die Vermengung der Geschäftsfelder Marketing, Infotainment und scheinbar private Kommunikation. War Papier immer schon geduldig, sind es die Websites noch um einiges mehr. Eigenwerbung, Racheakte, bezahlte Erlebnisberichte und Lobesadressen oder andere Formen interaktiver Kundenbeteiligung ergeben einen vielstimmigen Chor an naiven, zufälligen, fingierten und gekauften Stimmen, deren Herkunft, Finanzierung und Hintergrundinteressen nicht zu bestimmen sind. Und die "sozialen Netzwerke" stellen das Tool bereit, mit dem jeder seine Parameter neu erfinden kann. Nach unten wird dabei wohl selten abgetäuscht, was fatale Folgen für unser Zusammenleben hat: Es ist auf Hochstapelei gestimmt, denn jeder muss sich als exzellent inszenieren und damit eine tendenziell virtuelle Existenz vorgaukeln.

10. Benennen ist politisch

So kommt der Gesellschaft zunehmend der Realitätsbezug abhanden. In "Bambiland oder Babeln" führt Jelinek vor: Die medial hergestellte Realität ist Realität und macht den Krieg. Die Begriffe, mit denen wir gesellschaftliche Zusammenhänge benennen oder benannt bekommen, greifen nicht mehr oder führen gezielt in die Irre. Deshalb werden zum Beispiel die Oligarchen der westlichen Welt auch nicht so genannt, sondern Millionäre oder Superreiche, denn der Begriff ,Oligarch' transportiert zumindest noch Bedeutungsspuren des Illegalen und der Korruption.

Jelinek greift mit beiden Händen in diese Lücken zwischen Sprachpraxis und gemeinter Realität hinein und macht Euphemismen, Nullwörter und Argumentationsschleifen ohne Realitätsdeckung für uns neu lesbar.

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