Was ist der österreichische Mensch?

19451960198020002020

Ein bisher unveröffentlichtes Manuskript des Sozialhistorikers und Philosophen Ernst Karl Winter ist nun mehr als 70 Jahre nach seiner Entstehung verlegt worden. Der Text des in Vergessenheit geratenen Querdenkers ist auch ein Beitrag zum Republiksjubiläum.

19451960198020002020

Ein bisher unveröffentlichtes Manuskript des Sozialhistorikers und Philosophen Ernst Karl Winter ist nun mehr als 70 Jahre nach seiner Entstehung verlegt worden. Der Text des in Vergessenheit geratenen Querdenkers ist auch ein Beitrag zum Republiksjubiläum.

Werbung
Werbung
Werbung

Anlässlich des 100. Jubiläums der Republik Österreich stellt sich die Frage nach dem "typisch Österreichischen" sowie der Identität des österreichischen Menschen neu. Der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Soziologe und Philosoph Ernst Karl Winter (1895-1959) unternahm mit seinem bisher unveröffentlichten Manuskript "Die Geschichte des österreichischen Volkes" an der Schwelle zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Zweiten Republik einen außergewöhnlichen Versuch, sich diesen Fragen umfassend zu stellen. Er begründet das folgendermaßen: "Man hat bisher die österreichische Geschichte vorwiegend von einem Standpunkt aus betrachtet, der die Dynastie, die Monarchie, das Reich, den Staat, die Kultur, aber kaum einmal wirklich das Volk ins Auge fasste."

Der kurzzeitig auch politisch aktive Winter wird vor allem mit der von ihm initiierten "Aktion Winter" der Zwischenkriegszeit in Verbindung gebracht. Hierbei handelt es sich um den Versuch einer Annäherung von Christlichsozialen und Sozialdemokraten sowie Kommunisten zur gemeinsamen Abwehr nationalsozialistischer Aggressionspolitik. Dieser Versuch ist gescheitert, was vor allem am Juliabkommen 1936, das die "Versöhnungspolitik" mit Hitler einleiten sollte, lag. Charakteristisch für den Widerstandskämpfer Winter ist sein politischer Leitgedanke "rechts stehen und links denken".

Seine "Geschichte des österreichischen Volkes" schrieb Winter während der letzten Kriegsjahre in Amerika -und er versuchte danach vergeblich, in Österreich wieder Fuß zu fassen. Er war stets ein Außenseiter, dem ein Lehrstuhl und somit der Zugang zu einer größeren Öffentlichkeit verwehrt blieb. Winter war laut Anton Pelinka für die Nachkriegspolitik wie ein "schlechtes Gewissen", weil er Recht behalten hatte -die Erinnerung an das eigene Versagen. So gab es in Österreich kein Interesse an Winter, das Buch wurde nicht gedruckt.

Grundlagen für ein neues Miteinander

Das nun erstmals veröffentlichte und vor Kurzem präsentierte Werk Winters ist ein wichtiges und anregendes. Durch seinen unkonventionellen Ansatz bringt er althergebrachte und unhinterfragte Überzeugungen und Klischees ins Wanken. Geschichte sowie das je eigene Wirken in dieser sollen einen Sinn und eine Bestimmung bekommen, die eigene Verantwortung soll erkannt werden. Wie das zur selben Zeit von Karl R. Popper verfasste Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" Grundlagen für ein neues demokratisches Miteinander zu legen versucht, so hat auch "Die Geschichte des österreichischen Volkes" das Potenzial, Ursprünge von totalitärem Denken in Geschichte und Gegenwart zu identifizieren und Wege zu einem neuen, konstruktiven und gemeinsamen Miteinander zu zeigen.

Das Österreichische ist für Winter nicht christlichsozial oder sozialdemokratisch, sondern sowohl als auch. Sein Gedanke des lagerübergreifenden Schulterschlusses beeinflusste die Nachkriegspolitik der Zweiten Republik, wenngleich anders und weniger reflektiert, als Winter sich dies wohl wünschte. Die Bedeutung des Werkes liegt unter anderem in der Darstellung gelungener Integration durch Migration. Österreichische Identität zeigt sich laut Winter in drei elementaren Formen: "romanisches Erbe, slawischer Einschlag und germanische Überdachung".

Nicht Strukturen sind es, die Österreich in seiner Diversität durch die Geschichte bestimmten und zusammenhielten, sondern die Vereinigung der regionalen Identitäten zu und die Identifikation mit einem großen Ganzen. Trotz der realpolitischen historischen Schwierigkeiten können die österreichischen Erfahrungen richtungsweisend für weitere Integrationsbemühungen des europäischen Projekts sein. Besonders das Denken Winters kann dazu beitragen, diese Zusammenhänge zu verstehen und neue Impulse für eine gemeinsame europäische Zukunft zu gewinnen.

| Der Autor ist Professor an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems und lehrt am Institut für Philosophie und am Inst. f. Sportwissenschaft der Uni Wien |

Die Geschichte des österreichischen Volkes Von Ernst Karl Winter Hrsg. und kommentiert von Paul R. Tarmann, mit einem Beitrag von Gérard Grelle Plattform Johannes Martinek Verlag 2018 370 Seiten, Hardcover, € 25,00

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung