Was sichtbar wird, wenn der COMPUTER LIEST

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Mittels computergestützter algorithmischer Textanalyse erforscht Franco Moretti Literatur. In "Der Bourgeois" erkundet er, wie sich die bürgerliche Lebensweise in Romanen widerspiegelt.

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Mittels computergestützter algorithmischer Textanalyse erforscht Franco Moretti Literatur. In "Der Bourgeois" erkundet er, wie sich die bürgerliche Lebensweise in Romanen widerspiegelt.

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Es ist beinahe eine Binsenweisheit, dass Distanz Ereignisse und Gegenstände in einem anderen Licht erscheinen lässt und andere Erkenntnisse ermöglicht. Relativ neu ist, dass sich diese Überzeugung zunehmend auch für die akademische Disziplin der Literaturwissenschaft Bahn bricht, bei der Nähe mit der Methode des "close reading" ja präzise bezeichnet ist - Nähe als sorgfältig nachspürendes, kleinste Nuancen, detaillierteste sprachliche Effekte und semantische Mehrdeutigkeiten registrierendes Lesen und Interpretieren von literarischen Werken.

Der an der Stanford University lehrende italienisch-amerikanische Komparatist und Anglist Franco Moretti fällt seit längerem durch ein energisches Plädoyer für die Erweiterung des Methodenrepertoires auf, das als Gegenstück des dichten, textnahen Lesens verstanden werden kann. Ausgehend von der Frage, wie angesichts der Tatsache von Hunderttausenden von Büchern, die jede Lesezeit eines Forschers übersteigt, überhaupt eine Geschichte der Literatur geschrieben werden könne, sucht er nach Wegen, einen größeren Korpus an Werken zu sichten. Die Lösung brachte der Computer.

Karten und Stammbäume

Mittels rechnender Verfahren, das heißt computergestützter algorithmischer Textanalyse, erforscht Moretti räumliche Beziehungen, Abhängigkeiten, Worthäufigkeiten und -kombinationen sowie andere verwandte morphologische Strukturen in der Literatur, die er nicht selten mittels Graphenkurven, Karten und Stammbäumen darstellt. Diese der quantitativ orientierten Sozialund Naturwissenschaften entlehnten objektivistischen Verfahren nennt er "distant reading". Diese Methode erlaubt es, die Gesamtheit aller erhaltenen Romane für einen bestimmten Zeitraum in den Blick zu nehmen statt nur einzelne Werke des engen literarischen Kanons. So verfügt Moretti in seinem Archiv am Stanford Literary Lab für den Zeitraum von 1770-1830 über 200.000 Romane, von denen aber nur 200 in den Kanon gelangt sind. Literaturgeschichte werde, meint er in seinem Buch "Distant Reading", bald etwas anderes sein, sie werde zu einer aus zweiter Hand, zu einem Patchwork aus den Ergebnissen anderer Forscher - und zwar ohne direkte Lektüre einzelner Texte.

Mit diesem ambitionierten, gewiss auch provokativen, neuen methodischen Paradigma hat Moretti eine abseits der breiten Öffentlichkeit herrschende Diskussion um neue Erkenntnismodelle in der Literaturwissenschaft befeuert, wie sie vermehrt im Zusammenhang der computergestützten Geisteswissenschaften (der "Digital Humanities") auch hierzulande auftauchen und die Tradition des literaturwissenschaftlichen Arbeitens ziemlich auf den Kopf stellen.

Allerdings ist es nicht ganz so schlimm, wie es scheinen mag. Denn ohne eine genauere hermeneutische Lektüre einzelner Werke gewänne auch Moretti nicht jene Fragen, die er dann dem maschinellen Verfahren der Textlektüre zuführt. Vom Verzicht des Lesens in der Literaturwissenschaft kann also keineswegs die Rede sein. Moretti versteht die maschinelle Auswertung von Texten denn auch als ergänzendes Verfahren, nicht als eines, das das qualitativ interpretierende ersetzen soll oder auch kann.

Einen Eindruck, wie Moretti die mikrologische Beobachtung stilistischer Merkmale literarischer Texte mit einer quantitativen Makroperspektive verbindet, ist nun in seinem jüngsten, auch ins Deutsche übersetzten Buch "Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne" zu gewinnen. Darin unternimmt der Spezialist für die viktorianische Literatur des 19. Jahrhunderts keine Geistesgeschichte der Bourgeoisie, ihn interessiert vielmehr, wie sich die Lebensweise der Bourgeoisie im Roman widerspiegelt. Und weil er den Roman als die zentrale literarische Gattung des Bürgertums identifiziert - weil er selbst wesentliche Merkmale bourgeoiser Tätigkeit in sich trage: Fleiß und Arbeit - interessiert Moretti sich besonders dafür, wie die Romane geschrieben sind. Für den marxistisch geschulten Literaturwissenschaftler gibt es nämlich eine Verbindung zwischen Literatur- und Sozialgeschichte. Mit dem jungen Georg Lukács, der 1909 meinte, das wirklich Soziale in der Literatur sei die Form, versteht auch Moretti literarische Formen als Kondensate sozialer Verhältnisse, als Überbleibsel einer einst lebendigen Gegenwart. Aus den literarischen Formen versucht er die Verwerfungen und gesellschaftlichen Widersprüche von der ökonomischen Transformation hin zur hochkapitalistischen Modernisierung zu rekonstruieren.

Bürgerliche Tugenden

Moretti beginnt seine Erkundung der bürgerlichen Lebensform etwas überraschend mit William Defoes Roman "Robinson Crusoe"(1719). Der junge Mann, der - obwohl der Vater ihm rät, dem Mittelstand auf keinen Fall den Rücken zuzukehren, da dieser ihn vor dem "Elend und der Mühsal der nur von Händearbeit lebenden Menschenklasse" bewahren könne - das Abenteuer zur See sucht, gilt Moretti als Phänotyp des Bourgeois. Denn nachdem ihn ein Schiffbruch auf eine unbewohnte Insel fern der Heimat verschlagen hat, führt Robinson ein Leben, in dem Moretti das dem bürgerlichen Dasein zugrunde liegende Muster erkennt: eines arbeitsamen, fleißigen, zweckorientierten Bürgers, der durch "industry", hartes, regelmäßiges, ruhiges Arbeiten, die Insel in Privatbesitz verwandelt. Trotz der Schufterei empfinde der Held aber "ein subtiles Gefühl des Vergnügens". Aus einem Nützlichkeitsdenken heraus, scheue er keine Mühe, das zu seiner Annehmlichkeit notwendig Erscheinende herzurichten.

Die Kultivierung der Arbeit zur Herstellung von Komfort und Freude am eigenen Heim einerseits und andererseits Worte wie Notwendigkeit, Nützlichkeit, Effizienz, Behaglichkeit, Bequemlichkeit und ihre lexikalisch-grammatische Verknüpfungen, sowie die übermäßige Verwendung des Gerundiums, verleihen Robinson Solidität und seinem Handeln den Rhythmus der Kontinuität, in denen Moretti die (vor)bürgerlichen Tugenden verortet.

Bestimmte Schlüsselwörter

Der Idee Émile Benvenistes folgend, wonach die Sprache als "Instrument die Welt und die Gesellschaft zu ordnen" diene, gilt Morettis Aufmerksamkeit auch bei der Analyse der Romane des 19. Jahrhunderts weniger den Handlungen des Bourgeois als vielmehr dem spezifischen Prosastil, der sich durch Nüchternheit und das gehäufte Auftreten bestimmter Schlüsselwörter auszeichne.

Neben spezifischen grammatikalischen und bestimmten rhetorischen Mustern interessiert sich Moretti besonders für die Überdeterminierung und die unbewussten semantischen Assoziationen des viktorianischen Adjektivs. Ihnen weist er als "unauffällige Vehikel viktorianischer Werte" eine bedeutende Rolle zu. So beobachtet er, wie um 1850 ehedem physische Adjektive - solche die mit konkreten Gegenständen verbunden waren (wie stark, dunkel, etc.) - auf einmal mit Substantiven kombiniert werden, die emotionale oder moralische Tatbestände charakterisieren (starker Wille, dunkle Blicke). Werturteile, die nie als solche erscheinen. Wie sich die bürgerliche Mentalität in der Sprache einnistet, beobachtet er auch in der abnehmenden Nennungshäufigkeit des Wortes "serious". Das im Englischen eine vorübergehende Tätigkeit charakterisierende "serious" wurde durch "earnest" abgelöst, weil dieses einen permanenten Wesenszug charakterisierte, etwas was den Viktorianern offenbar sehr wichtig war.

Das fulminante Buch wird nicht nur wegen der Methoden zu reden geben. Morettis grandiose Lektüre im Schlusskapitel "Ibsen und der Geist des Kapitalismus" zeigt auf eindrückliche Art und Weise, wie die Kenntnis der Vergangenheit für eine Kritik der Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann.

Der Bourgois. Eine Schlüsselfigur der Moderne

Von F. Moretti Übersetzt von F. Jakubzik

Suhrkamp 2014

275 Seiten, geb., € 25,70

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