Was tun wir, wenn wir uns erinnern? Maria Stepanovas "Nach dem Gedächtnis"

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Wie lässt sich die Geschichte der eigenen Familie schreiben, in Putins Russland, wo man sich gerne auf Pathos, bisweilen auch auf Zensur und ominöse Gesetze verlässt? Das fragt und zeigt Maria Stepanova in "Nach dem Gedächtnis".

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Wie lässt sich die Geschichte der eigenen Familie schreiben, in Putins Russland, wo man sich gerne auf Pathos, bisweilen auch auf Zensur und ominöse Gesetze verlässt? Das fragt und zeigt Maria Stepanova in "Nach dem Gedächtnis".

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Lange Zeit waren es vor allem Frauen, die die Wahrheit über Russlands Geschichte im 20. Jahrhundert schrieben: "Marschroute des Lebens" von Jewgenja Ginzburg oder "Das Jahrhundert der Wölfe" von Nadeschda Mandelstam brachten die Tragödie des Landes genauer auf den Punkt als Alexander Solschenizyn, der in "Eiche und Kalb" sämtliche Wendungen seines Kampfes gegen die Sowjetbürokratie im Kampf um die Wahrheit minutiös aufdröselte -allerdings vorwiegend in eigener Sache. Diese Bücher waren zwar im Westen und im Zeichen des Kalten Kriegs bekannt, in der Heimat ihrer Verfasser wurden sie erst mit Gorbatschows Glasnost und Perestrojka einem größeren Publikum zugänglich; in den Mühen des postsowjetischen Alltags verschwanden sie sogleich wieder von der Bildfläche. Die Frage, wie mit der eigenen Geschichte umzugehen sei, wurde rasch ad acta gelegt.

Ein Vierteljahrhundert später feiert heute Nostalgie in Bezug auf die Sowjetunion wieder Triumphe. Wladimir Putins Wort "Der Untergang der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" öffnete die Schleusen für patriotischimperiales Wüten auf den Trümmern des Kommunismus; nach jüngsten Umfragen bedauern heute vierundsechzig Prozent der Russen den Untergang der UdSSR.

Allerdings war es auch nur eine Frage der Zeit, bis sich russische Frauen wieder zu Wort melden würden: Ljdumila Ulitzkajas arbeitet sich seit Jahren belletristisch an der Darstellung der einstigen Dissidenten ab, Gusel Jachina verwandelte vor kurzem das Leben der Tataren im Stalinismus in eine monumentales Epos, aktuellstes Beispiel ist Maria Stepanovas "Nach dem Gedächtnis". Das Buch mit der eigenwilligen Genrebezeichnung "Metaroman" wurde im vergangenen Dezember mit dem hochdotierten russischen Preis "Bolschaja Kniga" ausgezeichnet -vier Millionen Rubel, umgerechnet 35.000 Euro. Tatsächlich handelt es sich um eine Kreuzung aus Erzählung und archivarischer Rekonstruktion, aus langen reflexiven Passagen mit dichterischen Einschüben. Erzählt wird vom abwesenden Leben und mit zunehmender Skepsis gegenüber jeglichem Kult der Erinnerung.

Ausgezeichnete Autorin

Maria Stepanowa, Jahrgang 1972, Absolventin des einst gleichermaßen renommierten wie als kommunistische Kaderschmiede verrufenen Gorki-Literaturinstituts, ist in Moskau keine Unbekannte. In den letzten zwei Jahrzehnten veröffentlichte sie neun Gedichtbände, die ihrerseits prominent dekoriert wurden - vom deutschen "Burda-Preis" für osteuropäische Dichtung bis zum "Andrei-Bely-Preis" (Preisgeld: ein Apfel, eine Flasche Wodka, ein Rubel). Stepanova, rising star der heute äußerst lebendigen russischen Lyrik-Szene, ist überdies Chefredakteurin des wichtigsten russischen Internetportals in Sachen Kultur: colta.ru.

Wie in Putins Landen, wo man sich wieder gerne auf viel Pathos und bisweilen auch auf Zensur und ominöse Gesetze verlässt, und unter diesen Umständen die Geschichte der eigenen Familie zu schreiben wäre, ist eine der Hauptfragen in "Nach dem Gedächtnis". Kann eine zeitgenössische Autorin -nach Postmoderne und Dekonstruktion -zum Beispiel noch einmal so beginnen? "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich." Maria Stepanova hebt nicht gerade à la Tolstoj an, aber es liest sich erfrischend traditionell, wenn es da eingangs heißt: "Meine Tante war gestorben, die Schwester meines Vaters, mit etwas über achtzig Jahren. Wir standen uns nicht nahe, und daran hing ein langer Schweif familiärer Missverständnisse und Kränkungen."

Ohne Lust an großen tragischen Gegenständen und ohne übermäßig detektivischen Spürsinn wird erst einmal die Wohnung auf-und dann geräumt. Was bleibt, ist eine Menge Kram und zahlreiche Schachteln mit Fotos: Männer mit großen Bärten, dünnrandigen Brillen, Bilder von Urururgroßvätern und kleine Mädchen, die Röcke der Frauen werden immer länger und dann wieder kürzer Unversehens befindet sich der Leser in einer weitverzweigten, um nicht zu sagen verwirrenden vielschichtigen russisch-jüdischen Familiengeschichte mit Juristen und Ärzten, einfachen Angestellten, Bettlern und Millionären.

Die Geschichte der Stepanovs ist auch geografisch weit gestreut -Schauplätze der Erzählung sind Moskaus Zentrum in der Kreml-nahen Petrowka-Straße, das fernöstliche Chabarowsk, Gorki, Saratow, Leningrad, Cherson, sowie ein Nest namens Jalutorowsk. Sie habe schon seit ihrer frühen Jugend davon geträumt, von ihrer Familie zu erzählen, alles genau zu wissen, gesteht die Erzählerin (sich selbst), jetzt aber konstatiert sie gezwungenermaßen: "Ich musste mich damit abfinden, dass meine Verwandtschaft sich wenig Mühe gegeben hatte, unsere Geschichte interessant zu gestalten." Warum das so ist? Eine Zeitlang lassen sich aus dem Wust an allmählich zusammengesammeltem Material keinerlei Zusammenhänge herstellen, nichts "reimt sich", wie Maria Stepanova mit der Dichterin Marina Zwetajewa bekennt.

Großvater Ljonja etwa war nicht einmal an der Front gewesen, sondern hatte als Ingenieur im Hinterland gearbeitet. Der andere Großvater Kolja besaß zwar einen Offiziersausweis samt Orden des Roten Sterns, aber auch er hatte während des Krieges im Fernen Osten gedient; ob er dort gekämpft hatte? Die Fragen der Erzählerin sind vorsichtig, bisweilen ironisch und meist selbstironisch -vor dem Hintergrund der aktuellen Apotheose des Zweiten Weltkrieges aber durchaus als kritisch zu verstehen. Und wie verhielt es sich mit der "jüdischen Linie" der Familie -zu Zeiten der Oktoberrevolution und dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als Stalin paranoid von einer "kosmopolitischen" Verschwörung zu faseln begann -mit dramatischen Folgen?

Dauerndes Familienglück ist den Stepanovs und der in der vegetarischen Phase des Kommunismus aufgewachsenen Erzählerin ohnedies nicht beschieden: nach dem Ende der UdSSR entscheiden sich die Eltern, nach Deutschland zu emigrieren. Der Vater lebt heute in Würzburg, die Erzählerin in Moskau -sofern sie sich auf Recherchereise in Sachen "Erinnerung" befindet: im Holocaust-Museum in Washington oder in Yad Vashem, in Berlin, Oxford oder Wien.

Was bleibt?

Was tun wir, wenn wir uns erinnern, was erwarten wir von den Erinnerungen eigentlich, fragt Maria Stepanova unablässig und beginnt sogleich alte Briefe aus ihrer Familie mühsam zu entziffern: "Kein Tag ohne Zeile" lautet das Lebensmotto ihrer Tante offensichtlich, doch es sind nur familiäre Trivialitäten zu finden. Wenn die familiären Rituale, zu besonderen Anlässen im Familienalbum zu blättern, längst der Vergangenheit angehören -was bleibt?

An dieser Stelle gibt es eine Überraschung: in einer leeren Brieftasche findet sich das Foto einer nackten Frau, die auf einem Sofa in aufreizender Pose liegt. Das Kapitel ist mit "Sex unter Toten" überschrieben und dazu heißt es: "Sexuell war nicht der Körper der Frau oder ihre Pose, auch nicht die Szenerie, sondern nur ihr Blick in seiner Direktheit und Eindeutigkeit, die alles ignorierte, was nichts zur Sache tat." Die fast obsessive Betrachtung der ominösen Nackten geht über in einen Exkurs über die Rolle der Fotografie in Geschichte und Gegenwart; von den drei Fotos, die das Kindermädchen der Großmutter ein Leben lang aufbewahrte, bis zur heutigen Flut an Selfies. Radikaler Schluss der Betrachtung: Unsere Toten sind "wehrlos" gegenüber Fotos, die von ihnen im Umlauf sind. In Bezug auf die Bilderflut der Gegenwart räsoniert die Erzählerin, die jetzt ganz in ihrer Rolle als Essayistin aufgeht: "Das Vergessen, Nachäffen des Nichtseins, hat einen Zwillingsbruder bekommen: das tote Gedächtnis des Datenspeichers."

Der spektakulärste Teil des Buches ist der spektakulärsten Figur der Familie Stepanov gewidmet, der Urgroßmutter Sarra Ginsburg. "Babuschka Sarra hatte an der Sorbonne in Paris studiert. Sie ist ein Weltwunder." Die Erzählerin vergegenwärtigt sich nicht nur ihre triste Sowjetkindheit, verfällt dabei aber nicht in jene Verklärung der Zarenzeit, wie sie im Russland der Neunziger Jahre vor allem bei Intellektuellen Mode wurde. Stattdessen heißt es trotzig selbstbewusst: "Unmöglichkeit des Reisens war ein integraler, fragloser Teil des Alltags: In unserer Welt fuhr man nicht ins Ausland."

Emanzipierte Urgroßmutter

Die Urgroßmutter gehörte jener Generation russischer Frauen an, die um 1900 früher als in den meisten Ländern Europas zur Emanzipation drängten: 1906 beendete sie das Gymnasium in Nischni Nowgorod, als Tochter eines jüdischen Kaufmannes der Ersten Gilde war es ihr möglich, von 1908 bis 1914 in Paris Medizin zu studieren. Zu dieser Urgroßmutter kehrt die Erzählerin im Lauf ihres "Romans", der sich mittlerweile zur historischen Fallstudie weiterentwickelt hat, immer wieder zurück. Mal findet sie Hinweise auf deren Tätigkeit als linke Revolutionärin, die in der Leningrader Peterund-Pauls-Festung inhaftiert war; mal treffen wir sie in der Evakuierung in Sibirien während des Zweiten Weltkrieges; die so genannte "Ärzteverschwörung" mit mehr als deutlichen antisemitischen Untertönen in Stalins Spätzeit überlebt sie unbeschadet.

Mögen die unzähligen biografischen Details und Windungen, die in "Nach dem Gedächtnis" in immer neuen Anläufen beschrieben werden, anfänglich verwirrend wirken - im Lauf der Lektüre wird der Leser gleichsam zu einem Familienmitglied der Stepanovs. Dass die Lektüre zunehmend leichter fällt, ist vor allem der grandiosen Formulierungskunst der Autorin geschuldet. Denn wer schriebe heute noch Sätze wie folgenden: "Wie es scheint, hat mein Großvater sich verzweifelt und vergeblich auf grandiose Taten vorbereitet; er fiel durch die Zeit wie durch ein Loch in der Manteltasche."

Maria Stepanova liest aus Nach dem Gedächtnis Deutsche Lesung: Barbara Braun Dolmetsch, Moderation: Erich Klein 14. Jänner, 19.00 Uhr, Wien, Hauptbücherei am Gürtel

Nach dem Gedächtnis
Roman von Maria Stepanova
Aus dem Russ. von Olga Radektzkaja
Suhrkamp 2018
527 S., geb., € 24,70

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