Was will Europa sein?

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Zur von Jürgen Habermas und Jacques Derrida angestoßenen Debatte über das Verhältnis USA-Europa.

Es gab immer wieder Ereignisse in der Geschichte der europäischen Einigung, die kreative Nachdenkprozesse auslösten. Das durch den Irak-Krieg reichlich getrübte Verhältnis zwischen der Bush-Administration und der Europäischen Union ist einmal mehr ein Anlass, sich über die Rolle Europas in der Weltpolitik Gedanken zu machen. Strategisches Denken ist gefragt.

Man sollte daher Jürgen Habermas und Jacques Derrida mehrfach für ihren Versuch danken, eine Debatte über eine Erneuerungsstrategie zu führen. Beide Persönlichkeiten besitzen Glaubwürdigkeit in ihrem europapolitischem Engagement. Vor allem Habermas gehört zu jenen europäischen Intellektuellen, die durch ihr Plädoyer für eine europäische Aktivbürgerschaft einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Identitätsfrage eingebracht haben. Auch der Aufruf zur "Wiedergeburt Europas" sollte nicht nur eine gepflegte Debatte europäischer Intellektueller zur Folge haben, sondern die Politik zu vermehrtem Nachdenken ermuntern: über Visionen mit einem realistischen Hintergrund.

Große gegen Kleine

Ich teile mit Habermas und Derrida die Auffassung, dass Europa sein Gewicht auf internationaler Ebene in die Waagschale werfen müsste, um den hegemonischen Unilateralismus der USA "auszubalancieren" und das Design einer künftigen Weltinnenpolitik mitzugestalten. Dazu braucht es eine harmonische, entschlossene und handlungswillige Union. Die These, dass dieses Ziel durch ein "Kerneuropa" schneller erreicht werden könne, verdient jedoch eine kritische Betrachtung. Mir scheint es fraglich zu sein, ob ein avantgardistisches Kerneuropa, verstanden als ein "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wirklich jene Sogwirkung auf die übrigen Mitglieder entfalten würde, die man erwartet. So schlüssig und zielorientiert dieses Konzept klingt, das seit den Verträgen von Amsterdam und Nizza im Rahmen der "verstärkten Zusammenarbeit" realisiert werden kann, so sehr ist es ungewiss, ob der gewünschte Effekt eintritt.

Die Europäische Union sollte vielmehr alles unternehmen, dass die immer stärker werdenden Spannungen zwischen großen und kleinen Staaten durch eine Sphäre gegenseitigen Vertrauens ersetzt werden. Jacques Santer, der frühere Kommissionspräsident, hat erst vor kurzem in einem Interview mit dieser Zeitung (Furche Nr. 26) seine Bestürzung über die zunehmende Polarisierung zwischen den Großen und Kleinen innerhalb der EU geäußert. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, werden sich die Erwartungen an die progressive und produktive Kraft eines Kerneuropa kaum erfüllen lassen. Der Kampf der kleinen Staaten, ihre Einflussmöglichkeiten zu erhalten, wird weitaus entscheidender sein als die Debatte um Kerneuropa.

Des weiteren fragen Habermas und Derrida mit Recht, was eine Region zusammenhalten kann, die sich "durch die fortbestehende Rivalität zwischen selbstbewussten Nationen" auszeichnet. Maastricht hat ein eigenartiges Bild einer politischen Union gezeichnet, das mit der Metapher eines griechischen Tempels erklärt wird. Es ist jenes "Dreisäulenmodell", in dem sich Souveränitätsverzicht (Säule 1: Wirtschafts- und Währungsunion) mit Souveränitätserhalt (Säule 2 und 3) verbindet. Dieses Nebeneinander von Supranationalität und Intergouvernementalismus ist in der Tat ein Phänomen sui generis. Die Gewichtung beider Teile bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten, sie sind die "Herren der Verträge". Seit dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 scheint der Intergouvernementalismus im Vordergrund zu stehen. Die Finalität eines europäischen Bundesstaates, der als "Superstaat" perhorresziert wird, scheint in weite Ferne gerückt zu sein.

Beunruhigende Ratlosigkeit

Diese Unbestimmtheit der Finalität hemmt die Entwicklung einer Identität. Identität ohne Wissen um die Finalität wird kaum möglich sein. Die institutionellen Bezüge einer europäischen Identität sind eher dürftig: Das Europäische Parlament ist nach wie vor eine Vertretung der Völker Europas und nicht der europäischen Bürger. Die Unionsbürgerschaft ist ein Pflänzchen, das einen erheblichen Wachstumsbedarf aufweist. Die Vorstellung, dass eine Vision für ein künftiges Europa aus einem "beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit" (Habermas) geboren werden könnte, ist faszinierend, sie ist aber an der europäischen Realität zu messen.

Diese Feststellungen sollen nicht als Gegenargument dazu verstanden werden, dass aus dem europäisch-amerikanischen Spannungsfeld heraus die Europäische Union verstärkte Anstrengungen unternimmt, um selbstbewusster und stärker zu werden. Diese Herausforderung kann mehrfach begründet werden.

Neue Teilung Europas

Ein gestärktes vereintes Europa wäre nicht nur eine Schranke für den amerikanischen Unilateralismus, es könnte die USA vielmehr wieder zu multilateralem Denken und multilateralen Einstellungen zwingen und zurückführen. Im Augenblick treibt dieser Uniliateralismus eigenartige Blüten. So wurden jene Staaten, die bilaterale Vereinbarungen mit Washington über die Immunität amerikanischer Staatsbürger vor dem Internationalen Strafgerichtshof nicht unterzeichnet hatten, mit dem Entzug der Militärhilfe bestraft. Ist das das Signal einer neuen Teilung Europas? Wird die Trennung in von den USA begünstigte und nicht begünstigte Länder Auswirkungen haben? Die Empfehlung Brüssels, sich an die Grundsätze der Europäischen Union zu halten, wurde zumindest von den Regierungen in Mazedonien und Rumänien nicht befolgt; diese werden daher als enge Verbündete der USA belohnt werden. Man braucht kein Zyniker sein, um sich zu fragen, wo hier die "westliche Wertegemeinschaft" bleibt.

Wenn sich die EU-Staaten in Zukunft eine Kategorisierung in "Verbündete" und "Nicht-Verbündete" der USA aufzwingen lassen, ist die Chance, den amerikanischen Unilateralismus in einen multilateralen Dialog zu wandeln, begraben. Auch dieses Beispiel zeigt sehr drastisch, wie notwendig eine Außenpolitik der Union wäre, die mehr ist als eine Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten.

Der Autor, ehemaliger Zweiter Nationalratspräsident (ÖVP), ist Inhaber der Jean-Monnet-Professur am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck.

Zu diesem Thema ist in Furche Nr. 25 (19. Juni) ein Beitrag von Clemens Sedmak ("Vorrang für alte' Werte", S. 8) erschienen; weitere Texte folgen.

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