Waterloo - "Sternstunde der Menschheit"?

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Vor 200 Jahren, am 18. Juni 1815, entschied die berühmte Schlacht bei Waterloo nicht nur das Schicksal Napoleons. "Waterloo war keine Schlacht, es war der Frontwechsel des Universums", schrieb Victor Hugo in seinem Roman "Les Misérables".

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Vor 200 Jahren, am 18. Juni 1815, entschied die berühmte Schlacht bei Waterloo nicht nur das Schicksal Napoleons. "Waterloo war keine Schlacht, es war der Frontwechsel des Universums", schrieb Victor Hugo in seinem Roman "Les Misérables".

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Von "Hundert Tagen" der Abwesenheit Ludwigs XVIII. aus Paris (20. März bis 8. Juli 1815) sprach der königstreue Präfekt Chabrol - in der historischen Erinnerung wurde daraus der letzte Versuch Napoleons, seine Herrschaft zu behaupten. Die in Wien versammelten Herrscher und Diplomaten schleuderten dem Revenant von Elba die Ächtung als "Feind und Störer der Ruhe der Welt" entgegen. Auf dem Marsfeld hielt der Empereur das "Maifeld" ab, eine mit Zugeständnissen an das liberale Bürgertum verbrämte Truppenparade (1. Juni). Am selben Tag stürzte Marschall Berthier, Fürst von Wagram, aus dem Fenster der Bamberger Residenz in den Tod. Napoleons Generalstabschef seit dem Italienfeldzug, Brautwerber für Marie Louise, entzog sich so dem Dilemma der Pflichtenkollision; er sollte seinem Kommandanten bitter fehlen.

Das große Kriegsdrama 1792-1815 kehrte an seinen ersten Schauplatz zurück. Nicht die Grande Armée, sondern die Armée du Nord mit 123.000 Mann marschierte in den Niederlanden ein. Dort befehligte der aus Wien herbeigeeilte britische Gegner Wellington 112.000 Soldaten, mehr als die Hälfte Holländer und Deutsche, Hannoveraner und Braunschweiger zumal. Es galt, die Vereinigung der Alliierten zu verhindern: Die vier preußischen Korps Blüchers (116.000 Mann) waren im Anmarsch, Österreich und Russland machten mobil. Im Sommer 1794, vor 21 Jahren, hatte der Sieg der Revolutionsarmee bei Fleurus, 50 km südlich von Brüssel, die österreichischen Niederlande an Frankreich gebracht. Und am 16. Juni 1815, schien nahe Fleurus, bei Ligny, eine Vorentscheidung gefallen: Die Preußen wurden nach Osten abgedrängt, der alte Blücher stürzte vom Pferd. Marschall Ney sicherte am selben Tag bei Quatre Bras die Heerstraße Richtung Brüssel.

Blutige Gemetzel

Der Entscheidungstag des 18. Juni rückte heran, unter schlimmen Wetterbedingungen für die Franzosen, die im Freien biwakieren mussten, Napoleon in der dürftigen Herberge von Caillou. Von seinem komfortablen Quartier in Brüssel hatte es Wellington nur 15 km zu seiner Stellung bei Waterloo, wo er seine Truppen auf dem Mont Saint Jean vorteilhaft aufstellen konnte. In den von den Flüssen Lasne und Dyle zertalten Geländewellen ging es für Napoleon darum, die Bewegungen und Positionen seiner Gegner gleichermaßen im Auge zu behalten. Er verschätzte sich, was die Preußen betraf. Der zu ihrer Verfolgung detachierte Marschall Grouchy befolgte strikt den Befehl der Verfolgung Blüchers in Richtung auf Wavre. Ihm entging, dass es dem preußischen Stabschef Gneisenau gelang, ein Korps rechtzeitig in die rechte Flanke der Franzosen zu dirigieren. Die Aufstellung der französischen Artillerie hatte sich wegen des aufgeweichten Terrains fast bis Mittag verzögert. Überdies litt Napoleon an Hämorrhoiden und verzichtete doch nicht auf die Abnahme der "Vive l'Empereur"-Parade zu Pferd. Die frontalen Angriffswellen von Kavallerie und Garde brachen sich an Wellingtons Regimentern, auch nachdem die vorgelagerten Meierhöfe Hougoumont und La Haye Sainte in blutigem Gemetzel eingenommen waren.

Das Wort Wellingtons, er hoffe auf die Nacht oder die Preußen, ist apokryph - in der Tat griffen die Preußen schon zwischen 4 und 5 Uhr dieses langen Nachmittags ein, und die sinkende Sonne schien auf die trotz der Tapferkeit der Garde aufgelöst flüchtende Armee, die den Kaiser mit sich riss. Blücher wollte den Sieg nach Belle Alliance nennen, mit dem Namen des Gutshofs, bei dem er angeblich Wellington begegnete. Doch setzte sich die englisch ausgesprochene Benennung als Synonym für eine totale Niederlage durch. Nathan Mayer Rothschild in London gelang es, durch seinen Informationsvorsprung, angeblich durch Brieftauben, den Ausgang der Schlacht für einen Börsencoup zu nützen; er katapultierte damit sein Bankhaus an die Spitze der Haute Finance.

Napoleonischer Mythos in der Literatur

Ironie der Geschichte: Der kolossale Löwenhügel als Schlachtfelddenkmal erinnert bloß an eine leichte Verwundung des niederländischen Kronprinzen Wilhelm (II.) von Oranien - als er König wurde (1840/49), war ihm Belgien durch die Revolution von 1830 verlorengegangen. General Gérard, der 1815 in Grouchys Korps in Richtung des Kanonendonners marschieren wollte, belagerte im Zuge dieser Abspaltung Belgiens die Zitadelle von Antwerpen. Auch der Waterlooplein (Flohmarkt) in Amsterdam, die Waterloo-Säule von Hannover und Schinkels neogotisches Berliner Befreiungskriegsdenkmal auf dem Kreuzberg sind Denkmäler der Entscheidungsschlacht.

In seinem grandiosen Epochenroman "Les Misérables" hat Victor Hugo in einem 150 Seiten starken Exkurs Napoleons letzte Schlacht realistisch und pathetisch beschrieben: "Waterloo war keine Schlacht, es war der Frontwechsel des Universums." Dieser größte politische Romancier Frankreichs war persönlich betroffen, als er Napoléon le Grand gegen Napoléon III. le petit polemisch ausspielte. Hugos Vater war General, doch ist es auch möglich, dass er einem Verhältnis seiner Mutter mit General Victor (!) Fanneau de Lahorie entstammte. Lahorie war 1812 an der Verschwörung des republikanischen Generals Malet beteiligt; er wurde wie dieser hingerichtet. Die Hauptgestalten des Romans spiegeln den napoleonischen Mythos und seine dunklen Schatten. Jean Valjean, der leidende Held, ist während der napoleonischen Epoche 1796-1815 im Bagno gefangen und durchleidet die Geschichte bis zur Pariser Junierhebung von 1832 gegen das Bürgerkönigtum, in den Barrikadenkämpfen unter der roten Fahne der Demokratie und Republik, stets verfolgt vom unerbittlichen Polizisten Javert. Parallel wird die Geschichte des Studenten Marius erzählt, Sohn des bei Waterloo zum Baron erhobenen, schwer verwundeten Oberst Pontmercy. Marius schließt sich den Revolutionären an: Die Erhebung von 1832 entzündet sich am Begräbnis des napoleonischen Generals Lamarque. Der Schurke Thénardier, der seine üble Schenke als "Sergeant von Waterloo" führt, war in Wahrheit Leichenfledderer - es gibt Waterloo-Gebisse, die den toten oder sterbenden Soldaten aus dem Kiefer gebrochen worden sind.

Mit dem Blick auf Italien hat Stendhals "Kartause von Parma" den Sturz seines Helden Napoleon in eine die Absurdität des Kriegs zeigende Szenenfolge gebannt. Ähnlich in deutscher Perspektive Grabbe mit seinem avantgardistischen Drama "Napoleon oder die hundert Tage", beide unter dem Eindruck der Julirevolution 1830. In Sergei Bondartschuks sowjetisch-italienischem "Waterloo"-Film (1970) überzeugen Rod Steiger als Napoleon und Orson Welles als Ludwig XVIII. Zuhauf haben sich Computerstrategiespiele des Themas bemächtigt, unter sinnigen Titeln wie "Total War" oder "Napoleonix".

"Weltminute von Waterloo"

Der Übertreibungskünstler Heine berief sich immer wieder auf Napoleon, Hegels "Weltseele zu Pferde", Goethes "Kompendium der Welt", Hebbels "Tatgenie", Grillparzers "Gewaltigen" zusammenraffend und überbietend. Vom Schlachtfeld von Marengo datierte er das Jahrhundert der Emanzipation, und im späten, unterdrückten "Waterloo"-Fragment (1854) aus der Matratzengruft: "Es waren die Interessen der Freiheit, der Gleichheit, der Bruderschaft, der Wahrheit und der Vernunft, es war die Menschheit, welche zu Waterloo die Schlacht verloren." Für Heine blieb Napoleon moderner "Gonfaloniere" - Bannerträger der großen Revolution und der Demokratie gegen die "Aristokratie" als Prinzip Wellingtons. Tatsächlich stand der Duke of Wellington, der Eroberer Südindiens und hartnäckige Feldherr in Portugal und Spanien, für eine Politik im Zeichen von "no reform": Das "Peterloo-Massaker", der brutale Militäreinsatz gegen eine Versammlung von Handwerkern und Arbeitern auf St. Peter's Field bei Manchester (1819), sollte den Ruhm des Siegers von Waterloo überschatten.

Als Stefan Zweig an einem Napoleon-Stück arbeitete, schrieb ihm Sigmund Freud vom "großartigen Lumpen Napoleon", den er nebenbei analysierte. Zweig war sich des Widerspruchs in der Person des "Mannes des Schicksals" und der Epoche der unaufhaltsamen Revolution aller Lebensbereiche bewusst. Das Fragezeichen hinter der tragischen "Weltminute von Waterloo" bleibt über dieser "Sternstunde der Menschheit" stehen.

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