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In "We need to talk about Kevin“ spielt Tilda Swinton die androgyne Mutter eines missratenen Sohnes, der als Amokläufer endet. Swinton sieht den Film nicht als Sozialkommentar, sondern als Worst-Case-Szenario: Familien sind keine rationale Angelegenheit. Das Gespräch führte Magdalena Miedl

In "We need to talk about Kevin“ spielt Tilda Swinton eine Mutter, deren Sohn ein Massaker an seiner High School angerichtet hat: Ein FURCHE-Gespräch über Entfremdung, Schuldgefühle, Drachen und Ritter. Und warum ein Film doch nicht die Wirklichkeit sein kann und will.

Die Furche: Es gelingt nur selten einem Film, einen so total in die Gedankenwelt einer so traurigen Figur hineinzuholen. Wie haben Sie das ausgehalten?

Tilda Swinton: Nun, ich glaube nicht, dass es ums Denken geht, für mich ging es um das Gefühl, und das ist etwas viel chaotischeres und blutigeres als Gedanken. Familien sind keine rationale Angelegenheit. Ich finde, das ist ein Horrorfilm, ein Albtraum. Das ist kein Sozialkommentar, keine Dokumentation einer realen Familie und eines echten High-School-Schülers. Das hier ist das Worst-Case-Szenario. Als wir den Film vorbereiteten, haben Regisseurin Lynn Ramsay und ich festgestellt, dass diese Geschichte mit echter Kindererziehung so viel zu tun hat wie "Rosemary’s Baby“ mit einer echten Schwangerschaft. Jede Schwangere hat wohl irgendwann einen Moment lang die Fantasie, dass sie den Teufel zur Welt bringen wird. So wie jede Mutter irgendwann, zumindest eine Sekunde lang, die Fantasie hat, dass sie ein Monster heranzieht. Zum Glück geht dieser Moment für die meisten von uns schnell vorbei, aber für manche eben nicht, und das sind mehr, als man glauben würde.

Die Furche: War es das, was Sie am Buch von Lionel Shriver so gereizt hat?

Swinton: Ja, sie thematisiert da etwas, das wirklich ein Tabu ist, nämlich die Realität distanzierter Mütter. Ich bin in der glücklichen Lage, sehr gern Mutter zu sein: Als meine Zwillinge geboren wurden, in jenem Moment, in dem ich ihnen das erste Mal begegnete, wusste ich, dass es sehr einfach für mich würde, sie zu lieben. Dieses Wissen kommt einem sehr gelegen, wenn sie um drei in der Früh noch brüllen, das kann ich Ihnen verraten. Aber es hätte auch anders ausgehen können. Es gibt viele Menschen, bei denen dieses Gefühl nie einsetzt. Und es gibt Millionen Frauen, die damit umgehen müssen, und Kinder dieser Frauen, und Väter dieser Kinder. Lionel Shriver hebt da zumindest eine Ecke dieses Teppichs, unter den sonst alles gekehrt wird - ein radikales Wagnis.

Die Furche: Das Spannende am Film ist, dass wir keine Erklärungen bekommen, jede Schuldzuweisung bleibt aus.

Swinton: Genau das war ja unser Vorhaben, eine Position der Offenheit und des Mitgefühls zu erarbeiten, und dabei größtmögliche Komplexität zu erlauben. Bei der Vorbereitung, bei der Entwicklung des Drehbuchs, bei der Produktion, dem Dreh und dem Schnitt haben wir uns ständig darum bemüht, alles kompliziert zu lassen. Jedes Mal, wenn sich eine deutliche Linie herauskristallisierte, haben wir die wieder verwischt. Wann immer wir merkten, dass jemand eine klare Schlussfolgerung ziehen könnte, steuern wir in die Gegenrichtung. Denn es gibt keine Antworten.

Die Furche: Und dann geht es hier doch auch um das Thema, dass viele Karrierefrauen sehr lange mit Kindern warten, und dann das Gefühl haben, dass sie für den Kinderwunsch sehr viel aufgeben müssen.

Swinton: Das ganze Thema der arbeitenden Frau, unabhängig von ihrer Fähigkeit oder Entscheidung Mutter zu sein, ist meines Erachtens irreführend. Es gibt sehr viele Mütter, die diese Distanz zu ihren Kindern fühlen, unabhängig davon ob die den ganzen Tag daheim sind und eine Schürze umgebunden haben. Dass der Beruf schuld ist, scheint mir hier nur eine Ausrede, um diesen Frauen ein noch größeres schlechtes Gewissen machen zu können.

Die Furche: Haben Sie sich gefragt: "Was würde ich tun, wenn eines meiner Kinder so handeln würde?“

Swinton: Nein, gar nicht. Dieser Film ist eine Geschichte, so komplex wie meine Kinder, wenn sie sich verkleiden und einen Drachen und einen Ritter spielen. Die Aufgabe ist, das Ganze überzeugend wirken zu lassen, sodass es nicht zu fremd aussieht. Aber es ist nicht real, wenn ich das spiele. Sie glauben zu lassen, dass es echt ist, darin liegt der Trick.

We need to talk about Kevin

GB 2011. Regie: Lynne Ramsa. Mit Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell. Polyfilm. 110 Min.

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